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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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dem oberen Fenster. Zu spät. Aus unerfindlichen Gründen erschreckte der schrille, dünne Schrei den Hengst, und statt Tod auszuteilen, ergriff er die Flucht.
    »Lenkt ihn ab!« brüllte Sir Hubert seinem Stallknecht zu und gab dem elenden Wallach die Sporen. Außergewöhnlich kühn, dieses Balg: Sie würde es nicht schaffen, sich mit ihren kurzen Beinchen auf dem riesigen Tier zu halten. Dazu brauchte man Balance und Hände – und ihre hatten sich tief in die Mähne des Hengstes gekrallt und hielten sich fest, so gut es eben ging. Doch lange dürfte es nicht dauern. Bei jedem Schritt wurde sie hochgeworfen; der kleinste Zwischenfall, und sie lag unter den donnernden Hufen. Sie blickte mit glasigen Augen stracks geradeaus, so wild entschlossen und erschrocken war sie. Der Rappe wollte zu dem breiten Bach mit dem steinigen Untergrund, der sich durch die Koppel schlängelte und Brokesford den Namen gegeben hatte. Bei diesem Tempo und bei all den glitschigen, noch schneebedeckten Stellen auf dem Boden würde das Pferd stürzen und sich den Hals brechen und obendrein wahrscheinlich die kleine Reiterin töten. Sir Hubert setzte sich im gestreckten Galopp neben die rechte Flanke des Hengstes und war einen Augenblick lang auf gleicher Höhe mit dem rasenden Tier. Die schaumbedeckten Flanken des Hengstes hoben und senkten sich; er rollte irre mit den Augen. Gute Veranlagung, scheußliches Temperament, dachte der alte Ritter genau in dem Augenblick, als er das Balg am Hinterteil seines Kleides erwischte und es über den Widerrist seines Fuchses warf. Und während sein Prachthengst ganz außer sich auf den Bach zudonnerte, kreischte das undankbare, kleine, vor ihm liegende Bündel:
    »Runterlassen! Es ging so gut!«
    »Gut, weiß Gott, du kleines Ungeheuer, du hast meinen Hengst auf dem Gewissen. Und wenn du für mich nicht achthundert Pfund wert wärst, ich würde dir auf der Stelle den Hals umdrehen!«
    Er hatte es vorausgesehen. Das Pferd taumelte wie von allen guten Geistern verlassen ins Wasser, rutschte aus, fiel hin und stand nicht wieder auf. Im Wasser schlug es um sich und schrie, hob ganz außer sich den Kopf und blickte sich mit entsetzten Augen um. Man konnte Geschrei hören, und vom Haus kamen Menschen angelaufen, und als der Stallknecht eintraf, war Sir Hubert bereits abgestiegen. Von oben bis unten voll Schlamm und Blut, so stand er im morastigen Bach und versuchte, den riesigen, glitschigen, nassen, um sich schlagenden Kopf des Pferdes festzuhalten.
    »Er hat ein Bein gebrochen«, rief er dem Stallknecht zu. »Gib mir dein Messer; ich muß ihm die Kehle durchschneiden.« Das hatte er schon oft auf dem Schlachtfeld tun müssen – und nur bei solchen Gelegenheiten konnte man ihn einmal weinen sehen. Doch einem Schlachtroß zu Hause den Gnadenstoß zu geben, dem besten, in das er sein gutes Geld gesteckt hatte, ja, das brachte ihn vor Wut und Gram fast um den Verstand. Nicht zu fassen, dieser Verlust, und dumm obendrein; es war ein solcher Wahnsinn, daß niemand zu sagen wußte, wie die Sache ausgehen würde. Der Stallknecht zögerte einen Augenblick, als er den Befehl hörte. Etwas Schöneres als diesen Hengst hatte Sir Hubert noch nie mit nach Haus gebracht. Wider besseres Wissens sagte der Stallknecht: »Im Ernst, Sir?«
    »Verdammt nochmal, mit gebrochenen Beinen kenne ich mich nun wirklich aus. Reich mir das Messer.« Morgens noch das schönste Pferd auf zwanzig Meilen in die Runde. Abends Hundefraß. Sir Hubert spürte, daß ihm etwas übers Gesicht lief, und dieses Zeichen von Schwäche machte ihn nur noch zorniger. Der Stallknecht watete ins Wasser und bemühte sich, daß er auf den Steinen neben fast einer Tonne um sich schlagenden, blutenden Pferdefleisches nicht ausrutschte und unter die tödlichen Hufe geriet, die einem Menschen den Brustkasten mit einem einzigen Hieb zerschmettern konnten. Welcher Teufel war in den alten Ritter gefahren? Konnte er nicht abwarten, bis das Pferd erschöpft war, um es dann zu erlösen? Aber fragen stand ihm nicht zu. Doch als der Stallknecht es endlich schaffte, seinem Herrn das Messer mit dem Griff voran hinzustrecken, warf das Pferd den Kopf hoch, das Messer flog ins Wasser, kreiselte und war verschwunden.
    Fluchend versuchte der alte Mann, das Pferd mit einer Hand beim glitschigen Hals zu packen, während er mit der anderen nach seinem eigenen Messer griff: genau die Bewegung, die er hatte vermeiden und weswegen er das Messer des Knechts hatte haben wollen. Aber er

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