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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Merkmal all seiner erleseneren Kunstwerke. Etwas an dem Gesicht der kleinen Figur – vielleicht lag es auch nur am Lichteinfall – kam Gregory merkwürdig bekannt vor, und so begann er auf der Stelle zu feilschen, denn er fürchtete, die Farbe könnte die Illusion zerstören.
    Jetzt merkte er, daß es ihm zu Zeiten wohltat, wenn er zu ihm aufblicken und es anschauen konnte; dann saß er wohl einen Augenblick still da, ehe er sich wieder an die Arbeit machte. Wenn es mit der Chronik nicht vorangehen wollte, oder wenn er beispielsweise einen Brief von Vater aufgemacht und gelesen hatte, schien es ihn zu besänftigen. Man denke nur an den Tag, als eine erschreckte Katze in Kinderkleidern mit einem Satz durch die offene Tür und auf seinen Schreibtisch gesprungen war und Tinte über eine ganze Seite vergossen hatte. Er stellte die heranpolternden kleinen Verfolger ohne ein Donnerwetter, und das war, wenn man es recht bedachte, wirklich erstaunlich.
    »Ist das dein Ernst?« fragte er Margaret, blickte erneut zu seinem Kruzifix hoch, seufzte und hob den Kopf von den Händen.
    »O ja. Ich habe das Lied vergangenen Herbst auf der Straße nach Wymondley gehört. Du kannst nur hoffen, daß es durch ein noch schlimmeres über jemand anders ersetzt wird. Also, was ist mit diesem netten Kerl, der Bücher verkauft?«
    »Nicholas? Den kennst du auch?«
    »Ein wenig. Vergiß nicht, ihnen zu sagen, daß der Abend den Musen geweiht ist, jeder soll also etwas von seinen Werken mitbringen. Die Köchin überschlägt sich schier, und der Wein ist auch schon bestellt.«
    »Aber Ale gibt es doch wohl auch?«
    »Ganze Fässer voll. Weißt du, was ich gerade gedacht habe? Wir haben unsere Hochzeit nicht gefeiert, und dabei sind wir schon über ein Jahr verheiratet. Das könnte doch als eine Art verspätetes Hochzeitsfest gelten, oder? Und was hältst du von Master Will?«
    »Der Priester, der an den Straßenecken über das Ende der Welt geifert? Im Ernst, Margaret?«
    »Er schreibt gerade ein langes Gedicht über die Sünden der Reichen, Gregory. Master Kendall hat seine Bemühungen jahrelang unterstützt, und ich glaube, er hat ihn dir vermacht. Erst gestern hat er vorbeigeschaut, er brauchte wieder einmal Papier.«
    »Ach, na schön, wenn du unbedingt willst.«

    Die Frau des Weinhändlers kam als erste darauf, daß bei Margaret ein Musenfest gefeiert werden sollte. Sie hörte durch einen Gesellen ihres Mannes von der Weinbestellung, und daraufhin ließ sie durch ihre Köchin bei Margarets Köchin nachforschen, um was für eine Zusammenkunft genau es sich handelte. Darauf beriet sie sich mit Mistress Wengrave, und die pflichtete ihr darin bei, daß es ganz und gar unbillig war, alte Freunde nicht zu einem Abend einzuladen, der durch so ungewöhnliche und faszinierend verwegene Gäste interessant zu werden versprach – denn die erregten gerade deshalb Neugier, weil man sie auf der Straße nicht grüßen durfte. Und Margaret mußte man auch nicht lange bitten, daß sie so tat, als hätten alle längstens eingeladen werden sollen, und dann bestellte sie noch mehr Wein. Heikler war es, die Ehemänner von den Hauptbüchern wegzubekommen und sie zu überzeugen, daß ein Musenabend genau so schön sein könnte, wie einer, welcher der Pflege von Geschäftsbeziehungen höheren Ortes diente.
    »Musen? Soll das heißen, Gedichte und Gesang?« brummte Master Shadworth, der Tuchhändler, der zwei Straßen entfernt vom hohen Haus in der Thames Street ein ausnehmend prächtiges Geschäft besaß. »Eure Menschenfreundlichkeit gilt der Falschen, Mistress. Ihr erwartet doch wohl nicht, daß ich eine Frau grüße, die mit einem Schreiber ihres Mannes durchgebrannt ist, ehe sein Leichnam noch kalt war, nicht war?« Er hielt inne und wägte Zahl und Bedeutungsschwere der Worte seiner Frau ab wie Silber auf der Waage. In Wahrheit hörte er nie zu, wenn sie etwas sagte, sondern maß lediglich den Aufwand. Ein Mann sollte sich nie die Gründe seiner Frau zu eigen machen, da Frauen so gut wie keine Logik besaßen und man durch ihr törichtes Geplapper leicht auf Irrwege geraten konnte.
    Er nickte beiläufig, eher sachlich, wie es diese Art von Situation erforderte. »Selbstverständlich haben wir früher Besuche gemacht«, unterbrach er ihren Redeschwall mit dem behutsamen Ton, in dem man mit geistig Behinderten redet. »Aber das war zu Lebzeiten von Master Kendall. Begreifst du denn nicht, jetzt hat sich alles geändert. Ich gebe nichts auf die Bekanntschaft

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