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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Ein im Ausland geborenes Kind! Seht nur das schöne, weiße Pferd! Das muß eine Dame sein!« .
    An diesem Tag staken an der Brücke keine neuen Köpfe, und das war eine Wohltat, denn mir reichte es mit Köpfen für eine Weile. Nur ein einziger Schädel, den die Raben säuberlich abgepickt und den keine Verwandten abgeholt hatten, klapperte in der frischen Brise auf seiner Stange und hieß uns willkommen. Da es ein schöner Tag war, wimmelte die Brücke von Reisenden. Die Läden waren geöffnet, und die Händler riefen ihre Waren aus. Als wir uns durch die Menschenmassen und die beladenen Esel einen Weg vorbei an der St. Thomas´ Kapelle bahnten, hörte ich jemanden rufen: »Dame Margaret!« Es war Philipp, Master Kendalls Lehrjunge, der nach dessen Tod von Master Wengrave übernommen worden war. Er war gewachsen und im Stimmbruch, aber ich erkannte ihn dennoch. Ich rief ihn an, und er drängelte sich durch die lärmende Menge so nahe an mich heran, daß er mich hören konnte, als ich mich aus dem Sattel beugte. »Lauf so schnell du kannst zu Master Wengrave, lieber Philipp, und bestelle ihm, daß ich mit meinem Herrn Gemahl, der in Frankreich war, wohlbehalten zurückgekommen bin. Und bitte Mistress Wengrave, unserem Hausverwalter auszurichten, er möge das Haus in Ordnung bringen, denn wir wollen noch heute nacht dort schlafen.« Mit einem Jubelschrei verschwand der Knabe in der Menge.
    Doch kaum waren die Worte heraus, ließen sie sich nicht mehr zurücknehmen. Und schon war das Gerücht im Umlauf, daß ich meinen Mann verlassen und einen Franzosen geheiratet hätte, und als wir in die Thames Street einbogen, rief eine Frau aus dem Fenster: »Da ist er! Da ist der Franzose! Schämt Euch! Schämt Euch!«
    »Da hast du London, Gregory. Jeder weiß alles, und alles falsch. London ist nicht so groß wie Paris, auch nicht so großartig wie Rom, aber es ist immer noch der beste Ort, weil man dort –«
    »Bitte, o mein Gott, du wirst doch nicht etwa Ort auf dort reimen wollen?« unterbrach er mich.
    »Ei, nein, ich wollte mit zu Hause ist fortfahren – du liebe Zeit –« ich verschloß mir den Mund mit der Hand. »Nein, Ehrenwort, Gregory, ich bin nicht von der Reimkrankheit befallen, jedenfalls bis jetzt nicht.«
    »Wenn du auch nur ein Fünkchen Liebe für mich empfindest, dann laß dich nie davon anstecken. Ich fürchte, mit Hugo steht mir ein lebenslanger Leidensweg bevor.«
    »Versprochen«, sagte ich lächelnd. »Ich empfinde mehr als nur ein Fünkchen Liebe für dich.«
    Aber nun waren wir wirklich zu Hause, das bewiesen Lions freudiges Gebell und das Geschrei und Gelächter, als wir in die Gasse einritten, die unseren Hof von dem der Wengraves trennt. Zu beiden Seiten der Straße stand ein jeglicher Fensterladen offen, und alle Nachbarn lehnten sich hinaus und jubelten und schwenkten Tücher und Schals, und dann kamen sie nach draußen gelaufen, umdrängten uns und wollten die ganze Geschichte hören.
    Meine Augen jedoch suchten Cecily und Alison, noch ehe ich abgestiegen war. Sie kamen als erste aus der Küchentür der Wengraves gelaufen und schrien: »Mama! Mama! Mama ist wieder da; ich habe doch gesagt, daß sie wiederkommt!« Oh, wie ich mich freute.
    »Meine süßen Kleinen!« rief ich. Doch als sie das Körbchen erblickten, blieben sie wie angewurzelt stehen.
    »Was«, sagte Cecily und zeigte mit dem Finger darauf, »ist das da?«
    »Kein Geschenk«, sagte Alison.
    »Ihr Süßen, das ist euer kleines Brüderchen, das jenseits des Meeres geboren wurde. Möchtet ihr es sehen?«
    »Wir wollen kein Brüderchen haben«, verkündete Cecily mit fester Stimme.
    »Nein. Jungs sind abscheulich«, setzte Alison hinzu.
    Gregory war abgestiegen und stand neben mir, um mir vom Pferd zu helfen.
    »Der ist ja auch wieder da«, sagte Cecily.
    »Mußtest du den mitbringen?« fragte Alison.
    Gregory stand mit dem Rücken zu ihnen und hatte die Flanke des Pferdes vor Augen. Als er ihre Worte hörte, drehte er sich sehr langsam um und blickte sie an. Dann zogen sich seine wilden, dunklen Brauen zu einem mißbilligenden Blick zusammen. Noch nie hatte er so sehr einem écorcheur geglichen, der gerade ganz verdreckt und sonnengebräunt vom Schlachtfeld kommt.
    »Ich bin nicht ›der‹. Ihr werdet mich von Stund an mit ›Vater‹ anreden«, verkündete er sehr langsam und deutlich. Ein normales Kind wäre vor Angst gestorben.
    Nicht so der magere, kleine Wuschelkopf, der das Streitroß, den Menschentöter, geritten hatte. Sie

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