Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
einschlief. Dann hörte er die kleinen, unregelmäßigen Schnaufer des Kleinen in der Wiege und durch die Wand die der Kinder und der alten Mutter Sarah, die der Köchin und sogar der Nachbarn. Die nichtigen Gedanken, die sein Hirn verstopft hatten wie geschäftige Schiffe den Hafen, wurden beim Lauschen hinweggeschwemmt, und er spürte sich selbst nicht mehr, je länger er lauschte. Er drehte keine alten Sünden mehr um wie moosbedeckte Steine, um nachzusehen, was sich darunter befand; er betete nicht mehr zur Jungfrau Maria oder versenkte sich in Christi Leidensweg; er zählte nicht die sieben Tugenden auf oder pries Gott wegen all seiner herrlichen Werke. Kein Gedanke an das Abendessen des letzten Abends oder an das Frühstück von morgen schoß ihm durch den Kopf. Und immer noch lauschte er, bis er den tiefen und alterslosen Laut hörte, mit dem die Erde atmet. Und dahinter, nichts. Als er in das Nichts eintrat, flammte eine eigenartige Wärme in seiner Brust auf, irgendwo in der Nähe seines Herzens. Und er sagte nicht, aha! so steht es im Incendium Amoris beschrieben, nicht jedoch in der Scala Claustralium, sondern ließ es statt dessen geschehen. Die Wärme loderte auf und schoß höher, bis er ganz in Flammen stand. Sie stieg hoch auf, nach außen und nach innen zum Nichts. Reine, flammende Liebe. Für den Bruchteil eines Augenblicks schwang sie sich auf bis zu Gott wie ein Funke, der in der Dunkelheit aufsprüht. Und als sie sich legte, spürte er, daß alles auf Erden in ihrem sanften Schein glühte.
    »Erstaunlich«, sagte Gregory bei sich, als das Licht verblaßte und er in die Welt zurückkehrte. »Das muß ich irgendwann noch einmal versuchen«, murmelte er, drehte sich um und schlief wieder ein.

    »Also – gewiß möchtest du auch Robert de Clerc einladen –« Margaret war eifrig dabei, eventuelle Gäste an den Fingern abzuzählen, schließlich wollte sie auf dem laufenden bleiben, wieviele Plätze aufgedeckt werden mußten.
    »Woher kennst du denn den alten Saufbruder? Das ist kein ehrbarer Mensch, mit dem darfst du dich nicht anfreunden, Margaret.« Gregorys Stimme klang denn doch etwas bestürzt. Es kommt der Offenlegung einer nicht gebeichteten Sünde gleich, wenn man feststellen muß, daß die eigene Frau die Bekanntschaft alter Freunde aus der Junggesellenzeit gemacht hat.
    »Ich kenne ihn aus der Zeit, als du fort warst.«
    »Noch schlimmer. Hat er es bei dir mit einem seiner geilen Tricks versucht?«
    »Er? O nein«, lachte Margaret. »Er wollte sich für ein schmutziges Lied entschuldigen, das dich zum Thema hat.«
    »Was – es gibt ein schmutziges Lied über mich, das die Runde durch die City macht?« Und dabei hatte Gregory seine neue Ehrbarkeit so genossen, sich richtig darin gesuhlt, da mußte ihn der Gedanke an ein schmutziges Lied noch mehr erbosen als gewöhnlich.
    »Es macht die Runde im ganzen Königreich, Gregory. Stör dich einfach nicht daran.« Aber er faßte sich mit der Hand an den Kopf und stöhnte.
    Er saß in einem Zimmer, das von der Diele im Erdgeschoß abging und einst Roger Kendall als Kontor gedient hatte. Der breite Eichentisch und die schmale Bank standen an ihrem gewohnten Platz. Die Fenster hatten wieder ihre Glasscheiben. Ohne die Ballen und Rollen, die hier immer gelagert hatten, wirkte der Raum größer, obwohl nun ein neues Möbelstück darin stand – eine schlichte, eisenbeschlagene Holztruhe mit Auszügen aus Jehan le Bels neuer Chronik, wie auch einer hübsch gebundenen Ausgabe seiner Minnelieder, seinem Abschiedsgeschenk. Dazu kam noch als Nachschlagewerk die geborgte Kopie der Chroniken des Matthew Paris und die unordentlichen Papierstöße und Rollen mit den im Ausland angefertigten Notizen.
    Über dem Tisch, auf dem Feder, Messer, Sand und Tinte fein säuberlich aufgereiht neben dem halb beschriebenen Blatt unter seiner Hand standen, hing auf der Mitte zwischen Boden und Decke ein weiteres neues Stück an der Wand. Ein Kruzifix, streng und dunkel, mit einem aus hellem Holz geschnitzten Christus. Während das Kreuz selbst aus Ebenholz und mit Einlegearbeit kunstvoll gefertigt war, trug die kleine Figur keinerlei Bemalung. Gregory hatte eines Morgens in den Straßen herumgestöbert und es so im Laden eines Holzschnitzers entdeckt. Er machte Halt und sah dem Mann bei der Arbeit zu, welcher im Fenster saß und gerade letzte Hand anlegte, ehe er es mit einer grellen Vergoldung, Hellblau und einem Rot wie geronnenes Blut bemalen wollte. Diese Farben waren

Weitere Kostenlose Bücher