Die Vision
sind doch alle gleich.«
»Sie betet für die Seele von Roger Kendall.«
»Für diesen alten Krämer? Für den werden doch andauernd Seelenmessen gelesen. Was braucht der noch zusätzliche Gebete?«
»Sie sagt, er braucht sie noch. Sie sagt, daß er ohne Absolution gestorben ist, und sie hört erst auf mit Beten, wenn sie weiß, daß er im Himmel ist.«
»Ohne Absolution?« Der alte Mann klang ernst. »Dann ist das völlig in Ordnung. Lassen wir sie in Ruhe.« Sir Hubert gab sich einen Augenblick unangenehmen Überlegungen hin, dann hielt er inne, als ob ihm jäh etwas eingefallen wäre, und fragte: »Aber woher will sie wissen, wann sie aufhören kann? Erwartet sie etwa, daß Gott es ihr höchstpersönlich mitteilt, wenn er ihn erlöst hat?«
»So sagt sie.«
Der alte Mann hob die Schultern und schüttelte den Kopf. Städterinnen, sowieso alle nicht richtig im Kopf. Kommt von der schlechten Luft – macht das Hirn zu Mus. Na ja, ihr Hirn war auch nicht musiger als Gilberts – in dieser Hinsicht gaben sie ein prächtiges Paar ab. Und da hatte er sich alle Mühe gegeben, und doch war Gilbert immer noch so gefühlsduselig und zu nichts zu gebrauchen wie eh und je. Rückgrat! Disziplin! Führte sich auf, als hätte er die Worte noch nie gehört. Es reichte, um jeden Vater in den Wahnsinn zu treiben.
Der alte Mann durchmaß den Raum mit großen Schritten und gesenktem Kopf und strich sich mit einer Hand den Bart. Es mußte an dem schlechten Blut liegen – zweifellos von der Seite seiner Frau. Eine undankbare Aufgabe, wenn man es mit schlechtem Blut zu tun hatte. Doch wenn nicht einmal die Ehe ihn ausgeglichener machen konnte, dann war der Fall hoffnungslos. Zuweilen mußte man den Tatsachen ins Auge blicken. Gott sei Dank war Hugo normal. Und er würde aufpassen wie ein Luchs, wenn es um die Blutlinien der Frau ging, die er für ihn aussuchen würde. Was sollte aus ihnen werden, wenn Hugo einen Erben mit schlechtem Blut zeugte? »Eine Linie bereits versaut«, knurrte er bei sich und musterte dabei seinen zweiten Sohn, der in Habachtstellung vor ihm stand und darauf wartete, entlassen zu werden. Er hatte eine große Vorliebe: Söhne, die jedes Mal Habachtstellung einnahmen, wenn er ein Zimmer betrat. Eine der wenigen guten Manieren, die er in diesen übellaunigen Bengel hatte hineinprügeln können, bevor er zu groß wurde und ihm trotzte.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte er. Als Gilbert dann ging, dachte er, sobald die Sache geregelt ist, verhandle ich wegen einer passenden Braut für Hugo. Höchste Zeit, daß diese Familie ein Haus voller Enkelsöhne bekommt. Auf einmal standen vor seinem inneren Auge Enkelsöhne in Reih und Glied, lauter gehorsame, kleine Soldaten, alle in Habachtstellung vor ihrem Großvater zur Musterung angetreten. Bei dem Gedanken überflutete ihn eine seltene Welle der Befriedigung. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Ich glaube, ich habe die Kapelle im Hause meines Schwiegervaters noch nicht beschrieben. Sie ist kalt und feucht, und die grauen Steine weisen nicht einmal eine anständige, weiße Tünche auf, ganz zu schweigen von bunten Heiligenbildern. Der Grund dafür: Gregorys Vater ist knauserig und hat noch nie einen dieser fahrenden Maler bezahlen wollen, die zur Sommerszeit durchs Land ziehen und in Kirchen und Kapellen hübsche Bilder von der Jungfrau Maria und den Heiligen, oder was man sonst haben möchte, malen. In der Kapelle von Brokesford gab es kaum mehr als einen kleinen Altar, einige ausnehmend billige Kerzenhalter und ein altes Altartuch, das einst von jemand wunderschön bestickt worden, jetzt jedoch vergilbt und an den Kanten ausgefranst war. Und einen Geist gab es auch, obschon der wirklich nicht lästig fiel, außer daß er abends schluchzte und weinte. Meiner Erfahrung nach werden Geister immer von feuchten, trübseligen, steinernen Orten angezogen. Wo es warm, hübsch bemalt und voller Kinder und Musik ist, da haben Geister keinen Platz.
Eine gemütliche, gut ausgestattete Kapelle ist, das muß ich schon sagen, eine wunderbare Annehmlichkeit, wenn sie sich direkt im Haus befindet. Master Wengrave, unser Nachbar in London, Cecilys und Alisons Pate, hat eine kleine Kapelle gleich unten im Haus, wo die Familie jeden Morgen die Messe hören kann, ohne daß sie bei Wind und Wetter den ganzen Weg nach St. Botolphe machen muß. Das Dumme daran ist aber, daß man einen Kaplan im Haushalt hat, wobei die Kosten gar nicht das Schlimmste sind, schlimmer ist die Tatsache, daß
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