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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Euer Gesicht haben geleuchtet, und das Licht hat mich gewärmt. Ihr habt ja keine Ahnung, wie kalt es in dieser Kapelle ist. Daran bin ich nämlich gestorben. Ich habe mich erkältet, und nun werde ich nie wieder warm.«
    »Das tut mir schrecklich leid«, sagte ich. Weißen Damen sollte man immer höflich begegnen. In der Regel sind es Frauen, die im Kindbett gestorben sind und nun zurückkommen und nach dem Kind suchen. Sie verdienen Achtung, insbesondere von uns Frauen. Dann wehklagte sie etwas, nur um nicht aus der Übung zu kommen und bejammerte ein Weilchen ihre toten Kinder.
    »Macht Euch das nicht Angst« fragte sie ein wenig boshaft.
    »Wenn Ihr böse wärt, Ihr könntet mir Angst machen, aber ich glaube nicht, daß Ihr böse seid«, gab ich unerschrocken zurück.
    »Woher wollt Ihr das wissen? Schließlich bin ich hier, um mich zu rächen. Dafür lebt unseresgleichen. Selbstverständlich«, setzte sie hinzu, und das ziemlich hochfahrend, fand ich, »könnte ich jederzeit in den Himmel, wenn ich wollte, aber ich warte lieber hier, bis ich ihm alles heimgezahlt habe – die Gelegenheit hat sich mir auf Erden nie geboten. Ich mußte meine Bitte einreichen und um alle möglichen Genehmigungen einkommen«, fuhr sie recht überheblich fort. »Schließlich darf nicht jede Weiße Dame werden. Man muß schon eine besondere Sendung haben.«
    »Man sollte es nicht glauben«, sagte ich zurückhaltend. Ein hoffärtiger Geist. Aber man lernt nie aus. »Dürft Ihr mir sagen, worum es geht?«
    »Natürlich nicht. Das ist geheim. Aber soviel kann ich Euch verraten: Ich will es den Männern heimzahlen. Die machen einem das Leben zur Hölle. Hört auf mich, vergeudet Eure Zeit nicht damit, einen von der Sorte zu lieben. Sonst seid Ihr im Handumdrehen eine Weiße Dame. Das macht Euch sicher tiefen Eindruck? Wer bekommt schon gute Ratschläge von einer Weißen Dame?« Und das Nebelwölkchen wirbelte um mich herum.
    »Übrigens, falls Ihr wieder einmal leuchten wollt, kommt in die Kapelle. Es fühlt sich so gut an. Wärmt mich durch und durch. Sehr angenehm. Und sagt dem Kalten Ding, welches Euch hierher gefolgt ist, es soll mich nicht mehr belästigen. Diese Kapelle reicht nur für ein Gespenst.« Das Nebelwölkchen verflüchtigte sich und verschwand, und ich war statt friedlich, wie man es von einem Besuch in einer Kapelle erwarten sollte, verärgert und neugierig. Ich brauchte unendlich lange, bis ich mich gesammelt hatte und mich wieder ans Beten machen konnte.
    Als ich eine angemessene Zeit gebetet hatte, lange genug, um Master Kendalls Seele für einen weiteren Tag zu retten, machte ich Schluß und machte mich daran, die große Truhe, in der Bücher und Priestergewänder aufbewahrt wurden und die in der Ecke hinter dem Altar steht, zu durchwühlen. Als ich aber das Blatt Papier gefunden und vorn in mein Überkleid gesteckt hatte, hob das Geschluchze schon wieder an. Ich blickte auf und sah das Nebelwölkchen oben um das Kruzifix quirlen. Die Weiße Dame war immer noch da. Aber wo war die Tinte? Aha, ganz unten in der Truhe, und gut zugestöpselt. Ich goß etwas in einen kleinen Krug ab, der sonst mein Rosenwasser enthielt, und ließ gerade genug für Vater Simeon zurück, daß dieser meinen mochte, er hätte sie selbst aufgebraucht. Das Weinen hörte auf. Vor mir zog sich eine lange Dunstsäule zusammen, und einen Augenblick lang dünkte mich, ich könnte in dem Dunst die hochgewachsene Gestalt einer elegant wirkenden Dame mit langer, gerader Nase und mit Haaren sehen, die im Leben ziemlich dunkel gewesen sein mußten und die unter einem modischen, französischen Kopfputz steckten. Auf ihren langen, schlanken Fingern steckten zahllose Ringe, die mich damals faszinierten, denn ich überlegte, wie Geschmeide, das doch so fest und stofflich ist, dermaßen durchsichtig werden konnte. Sie blickte mich durchdringend an.
    »Ich habe alles gesehen«, sagte sie. »Ihr habt Papier und Tinte gestohlen.« Ich errötete.
    »Habt Ihr das für Euch gestohlen?«
    »Ja«, gestand ich.
    »Dann könnt Ihr also schreiben?«
    »Ja«, erwiderte ich.
    »Ich kann auch schreiben«, sagte sie ziemlich von oben herab. »Ich kann meinen Namen schreiben. Das können nicht viele, aber ich bin eine Ausnahme. Warum braucht Ihr ein ganzes Blatt Papier? Wollt Ihr einen Brief schreiben lassen?«
    »Ich schreibe für mich. Ich schreibe Dinge auf, die ich von Mutter Hilde gelernt habe, damit sie nicht verlorengehen. Rezepte und geheime Zauberformeln fürs

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