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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Kindbett und dergleichen. Und meine Gedanken schreibe ich auch auf, alle sagen nämlich, daß ich zuviel rede, und ich will mich doch bessern, aber wenn ich niemandem mehr mitteilen kann, was ich denke, das wäre mein Tod.«
    Bei letzterem blickte die Weiße Dame recht mitfühlend. Sie wirbelte ein wenig herum, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Dann zog sie sich wieder zusammen und stellte fest: »Ihr seid also eine Nonne. Und Mutter Hilde ist Eure Äbtissin. Warum seid Ihr nicht im Habit, und was tut Ihr überhaupt hier?«
    »Ich bin keine Nonne, Master Kendall hat jemand eingestellt, der mich Schreiben gelehrt hat, weil ich ihn darum gebeten habe. Mutter Hilde ist die weiseste Frau auf der ganzen Welt, aber eine Äbtissin ist sie nicht. Sie ist eine Heilerin und eine weise Frau und eine Wehmutter, und sie hat mir vor langer, langer Zeit ihre ganzen Geheimnisse anvertraut. Und ich schreibe sie für meine Töchter in ein Buch.«
    »Eine Wehmutter. Wehmüttern traue ich nicht über den Weg. Schade, daß sie keine Äbtissin ist, aber denen traue ich auch nicht – lauter Mitgiftjägerinnen.« Die Gestalt teilte sich und zerfaserte an den Rändern, so als fiele es ihr schwer sich zu sammeln. »Wißt Ihr, daß ich elf Kinder hatte?« Sie kräuselte sich und wehte hin und her. »Bis auf zwei sind alle tot. Nicht einmal ein Jahr sind sie geworden. Die Sünden meines Mannes haben sie umgebracht. Ich habe nicht genug gebetet, um seine Sünden wettzumachen. Ach, es war kalt, so kalt, und dann bin ich gestorben. Seid Ihr sicher, daß Mutter Hilde keine Äbtissin ist?«
    Sie klang so enttäuscht, daß ich sagte:
    »Nein, ganz sicher nicht, aber ich habe einen Bruder, der ist Priester.«
    »Priester? O wie nett.« Das hörte sich beiläufig an. Gut, dachte ich. Hauptsache, man hält Geister bei Laune. »Ich habe einen Sohn, der Priester ist«, setzte sie hinzu. »Unterdessen wahrscheinlich viel bedeutender als Euer Bruder. Ach, was war er doch für ein niedlicher, kleiner Junge. Kam ganz auf mich. Mein Beichtvater hat ihn schon Lesen und Latein gelehrt, da war er noch ganz winzig. Er hatte eine so rasche Auffassungsgabe – kein Stroh im Kopf wie mein erster Sohn. Daran war das schlechte Blut schuld. So geht es, wenn man unter seinem Stand heiratet. Mein Vater hätte es nie geduldet, wäre er noch am Leben gewesen. ›Heirate nie unter deinem Stand, mein Kleines‹, hätte der gesagt. ›Werde lieber Nonne.‹ Ach, mein kleiner Junge muß inzwischen schon sehr groß sein, aber er ist fortgegangen, wollte Priester werden, und ich habe ihn seit meiner Todesstunde nicht mehr gesehen. Er war noch so klein, und ich mußte ihn alleinlassen; sogar auf der anderen Seite habe ich ihn weinen hören. Aber ich bin sicher, er weiß noch, was ich ihm gesagt habe. ›Werde Priester‹, habe ich gesagt, ›nicht so ein Sünder wie das Untier, das ich geheiratet habe. Bleibe rein. Und vergiß nicht, du bist nicht wie sie.‹ Jammerschade, daß ich unter meinem Stand geheiratet und soviel Kummer über mich gebracht habe.«
    Als sie so redete, kam mir ein eigentümlicher Verdacht. Er wurde immer stärker und machte, daß mir die Haare zu Berge standen.
    »Ihr müßt aber sehr vornehmes Blut haben«, sagte ich sehr vorsichtig. »Selbst jetzt noch seht Ihr äußerst elegant aus.« Die Weiße Dame wirbelte zum Dank huldvoll. »Aber mit wem habt Ihr Euch vermählt? Möchtet Ihr mir nicht seinen Namen nennen?«
    »Ach, das war ein ungehobelter, junger Mann. Mutter war ganz eingenommen von ihm. Ein wahrer Ritter, sagte sie, und ist gekommen, uns aus aller Not zu erretten. Zugegeben, in seiner Rüstung sah er wirklich hübsch aus, und im Turnier führte er meine Farben zum Sieg, und das hat mir damals den Kopf verdreht. Aber Ihr werdet es nicht glauben, kaum waren wir verheiratet, da vergeudete er auch schon meine Mitgift auf die Ausbesserung seines Turms und ließ nicht einmal die Kapelle ausmalen. O Vater, du hattest ja so recht!« Sie erregte sich dabei so sehr, daß sie für eine geraume Weile zur Decke hochstieg und alsdann wieder herunterwölkte.
    »Nur für seine Pferde, für die hat er etwas springen lassen«, zischte sie mir gehässig ins Ohr. »Eine neue Satteldecke? Nur keine Kosten gescheut! Ein neues Kleid für seine arme Frau, die unter ihrem Stand geheiratet hatte? Kein Gedanke daran! Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich habe meine Hochzeitskleider aufgetragen. Und dann bin ich gestorben. Ohne anständige Garderobe ist das als Frau

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