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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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doch kein Leben. Aber ich sage Euch, ich bin zurückgekommen und gehe solange um und um und um, bis er es nicht mehr wagt, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Hört auf meinen Rat! Heiratet niemals unter Eurem Stand!«
    »Und der Name, nur damit ich Euren weisen Rat auch befolgen kann?«
    »Sir Hubert de Vilers, den der Teufel holen möge! Ein gräßlicher, blonder, junger Mann, neigt etwas zur Vierschrötigkeit – bildet sich viel auf seine Fechtkunst ein. Er ist nicht zu verwechseln, ja, weiß Gott nicht!« Vor Zorn war sie erneut ganz hochgewirbelt, daher konnte ich sie nicht sehen, aber das machte nichts. Sie hatte sich schon verflüchtigt, da mußte ich mir noch die Hand aufs Herz legen, so sehr hämmerte es. Nun gab es gar nichts mehr zu deuteln. Ich hatte eine Weiße Dame zur Schwiegermutter. Jetzt reichte es aber wirklich.
    Mutter Anne, also die war auch nicht meine richtige Mutter, sondern meine Stiefmutter, die mich aufgezogen hat, und die besaß viel gesunden Menschenverstand und hat mich immer vor Schwiegermüttern gewarnt.
    »Margaret, Margaret«, sagte sie immer, »wenn du heiratest, sieh dich vor deiner Schwiegermutter vor. Denk daran, sie ist immer wütend auf das Mädchen, das ihr den Sohn wegnimmt, sei also ehrerbietig! Gib ihr keinen Anlaß zur Gereiztheit! Gib ihr das Beste von allem auf dem Tisch und überzeuge dich, daß ihr Bett angewärmt ist, ehe sie hineinsteigt. Nenne sie ›Frau Mutter‹, auch wenn sie keine Dame ist, und knie höflich vor ihr nieder. Ich habe mehrere Schwiegermütter gehabt, und du kannst mir glauben, ich weiß Bescheid. Und das ist das einzig Gute, was man deinem Vater nachsagen kann – der hatte keine Mutter mehr am Hals, und dafür bin ich ihm dankbar.«
    O Mutter Anne, du fehlst mir so sehr! Sicher, ganz, ganz sicher treffen wir uns eines Tages wieder. Und wenn, dann erzähle ich dir von meiner ersten Schwiegermutter, denn Master Kendall war so alt, daß er keine mehr mit in die Ehe brachte. Du wirst Augen machen! Und mit Sicherheit habe ich deinen guten Rat nie dringender gebraucht als jetzt, denn ich bin in eine äußerst heikle Situation hineingeschliddert.

    Die folgenden Nächte waren schlimm, schlimm. Ruhelos warf ich mich im Bett hin und her, setzte mich in kalten Schweiß gebadet jählings auf, ängstigte mich wegen des Kalten Dinges und lauschte auf die Atemzüge rings um mich. Ich bekam dunkle Ringe unter den Augen, aber ich verriet niemandem warum – daß mir nämlich ein Kaltes Ding Angst machte und Geister, die herum wirbelten und nichts Gutes verhießen. Vor allem aber ängstigte mich, daß es der törichten Weißen Dame gelingen könnte, sich auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen und herauszufinden, daß ihr kleiner Junge am Ende doch nicht Priester geworden war und daß die Schuld daran teilweise mich traf.
    Bei Mondenschein stand ich zuweilen auf und ging auf Zehenspitzen durch die Binsen um die schlafenden Hunde herum zum Fenster und starrte die Sterne an, denn meine verborgenen Ängste setzten mir zu, ich litt insgeheim Höllenqualen. Sie waren so kalt und funkelnd und standen so hoch am Himmelszelt. Wie hatte Gott es bloß geschafft, die dort anzubringen, daß sie sich bewegen konnten, ohne jedoch herunterzufallen? Dann legte ich wohl die Ellenbogen auf die Fensterbank, obschon ich halb erfroren war, und sah zu, wie die Wolken am Mond vorbeijagten, bis meine abgestorbenen Füße mich wieder unter die Bettdecke scheuchten. Gregory hat Glück. Der verschläft alles. Ich fühlte seinen leisen Atem im Dunkel und spürte die Wärme seines Leibes, und das Herz schmolz mir trotz alledem – wegen alledem. Wer weiß?
    Am meisten jedoch fürchtete ich mich vor dem Kalten Ding. Ich fürchtete – nein, ich wußte –, daß es eines Tages zwischen uns kommen würde. Es würde bei Nacht kommen und sein gemeines, unnatürliches Wesen offenbaren. Es würde den riesigen, zotteligen Kopf schütteln und mich mit seinem Geifermaul packen. Vielleicht war es ja auch ein Teufel, und am Morgen würde man von mir nichts mehr finden als einen kleinen Fleck auf dem Bettlaken, wo ich gelegen hatte, und Schwefelgestank in der Luft. Oh, es würde schon noch kommen, mich zu holen. Ich spürte sein Nahen. Es wartete nur den richtigen Zeitpunkt ab.
    Etwas mehr Zeit, bitte. Ein wenig mehr Zeit, Kaltes Ding. Ich möchte ihn nur noch ein paar Nächte haben. Ich weiß, worauf du wartest, Kaltes Ding. Du zählst meine Sünden, und wenn du bei der letzten angekommen bist,

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