Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
größter Kriegsherr war zwar schon ein Mann in mittleren Jahren, jedoch immer noch kraftvoll, und selbst noch im Bett wie jetzt umgab ihn eine fast unsichtbare Aura von Macht. Und das hatte auch seinen Grund: Als Herr über zwanzig Burgen allein in England regierte er auf seinen ausgedehnten Ländereien als unumschränkter Herrscher. Er führte ein eigenes Siegel, hatte seine eigene Gerichtsbarkeit und eigene diplomatische Vertretungen. Seine riesigen Landgüter kamen nicht nur für ihre eigene Verwaltung, sondern auch für den riesigen und geschäftigen Haushalt auf, der mit dem Herzog von Burg zu Burg zog, wenn er nicht gerade im Felde stand.
    Der Herzog saß aufrecht auf der reich bestickten Tagesdecke des breiten, seidenbehangenen Bettes; den vom gestrigen Bankett entzündeten gichtigen Fuß hatte er auf einen kleinen Schemel gelegt. Das hier waren die letzten Bittsteller eines langen, geschäftigen Morgens, der im Morgengrauen begonnen hatte. Dieser Fall lag etwas anders. War sogar vergnüglich. Hier stand ein Mann, den der Herzog sonst mehr im Feld als daheim sah, wo der Kerl nur einmal im Jahr auftauchte, um ihm formell für sein Lehen zu huldigen. Die Ritter und Schreiber, die herumstanden und auf dem Sprung waren, sich um alles zu kümmern, was er befehlen mochte, wurden langsam unruhig, sie dachten an das wartende Mittagsmahl.
    »Stimmt, Mylord, leider«, gab der Sieur de Vilers zurück, der, mit gesenktem Kopf, den Hut in der Hand, in den Binsen des Fußbodens kniete, flankiert von seinen beiden Söhnen, die es ihm nachgetan hatten.
    »Ich habe den alten Kendall gekannt«, sagte der Herzog und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Draußen schob ein frischer Wind Wolken über den blauen Frühlingshimmel. Kroküsse streckten sich der Sonne durch die tote Erde entgegen, und durch die unverglasten Fenster konnte man das Plätschern des breiten, künstlich angelegten Sees hören, der die Burg auf drei Seiten umgab. »Er hat mir einige Raritäten verkauft. Und natürlich konnte niemand eine Bahn Purpurstoff besser beurteilen als er.« Der Herzog hatte nämlich eine Schwäche für den Duft dieser irrsinnig teuren Farbe und liebte es, wenn eine neue Bahn Purpurstoff entfaltet wurde. Und Kendall hatte diese Schwäche befriedigt und viel Geld daraus geschlagen. »Ein scharfes Auge, ein Sammlerauge. Sein bestes Sammlerstück war sein kleines Püppchen. Ich habe sie vergangenen Winter auf meinem Maskenball tanzen sehen, als ich den Londoner Kaufleuten das Savoy geöffnet habe. Habt Ihr das gewußt? Ein lebhaftes Ding, die Kleine. Schien alle modernen, neuen Schritte zu beherrschen.«
    »Nein, Mylord, ich hatte keine Ahnung.«
    »Hat jeden Kuppler aus der City abblitzen lassen«, sagte der Herzog immer noch ganz in Gedanken. Und meinen auch, dachte er. Und das war recht unhöflich von der Kleinen, wenn man bedenkt, daß ich Dankbarkeit erwarten darf, wenn ich mich zu einer Kaufmannsfrau herablasse. Er hielt einen Augenblick gedankenverloren inne. Dann rief er sich zur Ordnung. Er nahm sich Zeit, Gregory zu mustern. Fast ein Jahrzehnt, daß sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Seinerzeit, in seinem Haushalt in Leicester, war Gregory der verrückteste unter all den ungebärdigen, frisch gebackenen Knappen gewesen. Kaum zu glauben, daß die hochgewachsene, asketische Gestalt in dem abgetragenen, geflickten Samtüberrock die gleiche sein sollte wie der Held der unzüchtigen, neuen Ballade, die überall in London die Runde machte. Es ging da um einen alten Kaufmann, dessen Mauern so hoch, hoch, hoch waren, mit einer Frau so jung, jung, jung, und einem kühnen, jungen Knappen, der sich als bescheidener Mönch durch die Küchentür-tür-tür eingeschlichen hatte. Das mußte ihm sein Spielmann morgen abend, wenn die hier abgezogen waren, noch einmal vorsingen. Die Melodie taugte nicht viel, aber ein paar ziemlich aufreizende Verse beschrieben das Leben und Treiben in den Kammern, während der Alte schlief. Wenn sie nicht in Bausch und Bogen von einer anderen Ballade abgekupfert gewesen wären, man hätte sie wohl ernst nehmen müssen. Und das von Gilbert?
    Wenn er einem dergleichen nicht zutraute, dann Gilbert, und er hielt sich für einen guten Menschenkenner. Ein Streich war hier noch immer in guter Erinnerung; die beiden anderen Knappen hatten ihm einst an ihrer Stelle zwei nackte Wäscherinnen ins Bett geschmuggelt, welches sie mit Gilbert teilten, nur weil sie auf seine entsetzte Miene beim Aufwachen gespannt

Weitere Kostenlose Bücher