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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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dem Märchen, das über Nacht Stroh zu Gold spinnen soll. Neuen Sauerteig macht man nicht an einem Tag oder in ein paar Tagen, und das Brauen lief zwar gut, doch der Sauerteig machte mir Sorge. Zum einen muß man den Vorteig genau richtig hinbekommen, und dazu braucht er Luft, doch dann vergrabe ich die Krüge – mein Geheimnis –, bis der Sauerteig aufgegangen ist, süß duftet und Blasen wirft. Er kann aber auch schlecht werden; und dieser Gedanke beschwerte mich sehr. Das weiß man vorher nie, aber eine zweite Gelegenheit, mich zu beweisen und meine Wette zu gewinnen, würde sich mir nicht wieder bieten. Darum war ich sehr emsig und vergaß das Kalte Ding völlig, was auch gut war, nur schnappt seinesgleichen immer zu, wenn man am wenigsten darauf gefaßt ist.
    Und genau das geschah. Ich war allein im Turmaufgang, als ich jählings mitten hineintrat. Ich erschauerte und sprang zurück. Das Kalte Ding folgte mir und klebte an mir wie klammer Nebel. Lieber Gott, jetzt ist es soweit, es will mich holen, dachte ich. Ich drehte durch, doch als ich fortlaufen wollte, stolperte ich und fiel hin.
    »Warte, warte!« seufzte das Kalte Ding, als ich aufstehen und fliehen wollte. Ich hatte mir das Knie angestoßen und kam nicht schnell genug hoch.
    »Hör mich an, hör mich an.« Es hüllte mich ein, während ich dasaß und mir das schmerzende Knie rieb. Es war so kalt, daß mich fröstelte. Aber da es mich eingeholt hatte, konnte ich mich genauso gut mit ihm unterhalten.
    »Entschuldigung, aber ich kann nicht bleiben, wenn Ihr mich weiterhin so eiskalt anweht.«
    »Läufst du darum immer fort, wenn ich dir nahekomme? Kannst du mich denn nicht sehen?«
    »Nein, ich fühle Euch nur; Ihr seid wie eine Eiswolke.«
    »Dann weißt du nicht, daß ich es bin?«
    »Wer – oder was seid Ihr?«
    »Oh, Margaret, Margaret, erkennst du mich denn nicht? Ich bin zwischen Himmel und Erde, Margaret, hier im Schatten«, seufzte das Kalte Etwas. Auf einmal kam mir die Stimme im sanften Wehen des Windes bekannt vor.
    »Seid Ihr es wirklich? Wie seid Ihr hierhergekommen?«
    »Oh, das war gar nicht so einfach. Zunächst habe ich die ganze Zeit bei dir gesessen, aber du hast mich anscheinend nicht bemerkt. Dann habe ich dich verloren, konnte dich nirgendwo finden. Ich habe nach deinem kleinen Licht gesucht und habe statt dessen nur andere Leute mit Lichtern gefunden: die Frau eines Fischhändlers, einen Stallknecht und einen Einsiedler. Der Einsiedler hatte ein interessantes Licht – das leuchtete bläulichweiß. Und ich dachte immer, sie wären alle wie deines, so hellrot. Ich wußte, du bist nicht tot, denn ich sehe alle Toten an mir vorbeikommen – sogar meinen Sohn Lionel mit dem Kopf unterm Arm unterwegs nach – hm – unten. Dann dachte ich, wo du auch immer bist, du würdest alles in Bewegung setzen, daß du deinen Psalter wiederbekommst, also bin ich dem gefolgt. Wo sind wir hier übrigens?«
    »Im Herrenhaus von Sir Hubert, Brokesford Manor, in Hertfordshire.«
    »Bröckelford Manor trifft es eher.« Master Kendalls Geist rümpfte die Nase. »Also, ich habe mein Haus gewißlich besser in Schuß gehalten.«
    »Ganz meiner Meinung«, sagte ich. »Aber ich begreife immer noch nicht, wie Ihr hierhergekommen seid – ich meine, so zwischen Himmel und Erde.«
    »Ach, Margaret, du hast ja keine Ahnung, wie gräßlich das alles war. Zunächst habe ich über meinem Leib geschwebt – übrigens sehr lieb von dir, daß du mich selber gewaschen hast, die meisten Frauen hätten jemand anders damit beauftragt aber du warst schon immer ein ganz besonderer Schatz. In der Regel darf man bis zum Begräbnis bleiben, wenn es eine große Leiche ist. Aber dann stellte sich heraus – na ja, es ging um die höllischen Regionen –, wenn du weißt, was ich meine.«
    »Das habe ich befürchtet«, rief ich und rang die Hände. »Das kommt daher, daß Ihr ohne Absolution gestorben seid. Ich habe sofort mit Beten angefangen. Ich habe mir einen Zeitplan gemacht und bete selbst zwischendurch noch.«
    »Ja, es hat auch einiges bewirkt. Das Beten, meine ich. Du hast ihnen so zugesetzt, daß sie nicht wußten, was sie mit mir anfangen sollten. Und so wandere ich hier herum, bin weder oben noch unten, und die meisten Menschen können mich nicht sehen, ich aber alle. Keine anregende Gesellschaft hier im Schattenreich, und du fehlst mir ganz schrecklich. Du, und natürlich mein Geschäft, das dieser gräßliche Kerl, dieser Perkin Greene, übernommen hat.«
    »Oh,

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