Die Vision
drohte ihnen sein äußerstes Mißfallen an, falls sie nicht die Wittib und ihre Töchter nach Kenilworth schickten, wo man aufs Prächtigste für sie sorgen würde, bis der Herzog eine passende Heirat für sie mit einem seiner wackeren Ritter vereinbaren könnte.
»Das geht nicht«, sagte Sir Hugo und erbleichte erneut. »Sie ist entflohen.« Der Fluch, dachte er. Der Fluch wirkt schon. Zuerst die Kröten, dann dieses. Bis ins Grab hatte sie gesagt. Oh, Gott, was habe ich getan?
»Entflohen?« erwiderte Sir William. »Dann würde ich mich an Eurer Stelle auf die Suche nach ihr machen und nicht ruhen und rasten, bis ich sie gefunden hätte – und das bei guter Gesundheit. Ich, an Eurer Stelle, würde das Mißfallen des Herzogs nicht riskieren.« Zufrieden mit dem ganzen Schwall von Befehlen, mit denen Sir Hugo den Suchtrupp zusammenstellte, widmete sich Sir William nun seinem alten Waffengefährten, Sir Hubert, dem er auf seinem Sterbelager Trost zusprechen wollte.
»Ei, ei«, flüsterte Sir Hubert auf dem großen Bett hinter dem Wandschirm, »der große Fisch verschluckt den kleinen.« Seit er auf den Tod gelegen hatte, sah er alles viel klarer. Die äußerliche Hülle der weltlichen Dinge war verschwunden, und die nackten Knochen der Ereignisse traten zutage.
»Fisch?« Was meint Ihr damit?« sagte Sir William, der auf der Bettkante neben seinem siechen Freund saß.
»Ach, nichts. Die Fische in meinem Teich damals, ehe wir sie zur Fastenzeit verspeist haben.« Der ironische Ton war unverkennbar. »Jetzt dürfte es wirklich interessant werden. Ich will gesund werden. Ich möchte doch mitbekommen, wie alles ausgeht.«
Doch Sir William argwöhnte, das ganze Gerede über Fische bedeutete, daß Sir Hubert nicht mehr ganz bei Sinnen war. Ja, ja, so geht es oft vor dem Ende. Er will mich trösten, darum tut er so geheimnisvoll. Ritterlicher, alter Knabe. Schade, jammerschade, fand Sir William. Und während er seinem alten Freund einen Leckerbissen vom Hofklatsch auftischte, dachte er bei sich, ich muß meiner Frau sagen, daß sie meine schwarze Bruch flickt.
Kapitel 6
W enn einer eine Reise tut, dann kann er viel erleben. In Wymondley stießen ein paar Kaufleute mit vollbeladenen Maultieren zu uns, die sich von den Reisigen der Marquesa so beeindrucken ließen, daß sie sich für den Weg nach London unter ihren Schutz stellten. Sie natürlich ließ sich nicht so weit herab, daß sie mit ihnen geredet hätte, denn in derlei Dingen hatte sie einen ganz eigenen Geschmack. Statt dessen benutzte sie Fra Antonio als eine Art Vermittler. Doch die Kaufleute boten Cecily und Alison an, zur Abwechslung oben auf den Wollballen zu reiten und sich so keine weiteren blauen Flecken im Wagen zu holen, und dabei lief natürlich das Mundwerk der Mädchen. So dauerte es denn nicht lange, und einer aus der Gruppe, ein hochgewachsener, unscheinbarer, ehrlich aussehender Bursche, ritt auf seinem großen, rotbraunen Maulesel hinter dem Wagen her und sprach mich auf Englisch an, was die Marquesa nicht verstand.
»Stimmt es, daß Ihr Roger Kendalls Wittib seid?«
»Habt Ihr ihn gekannt?« fragte ich erwartungsvoll, denn bis auf den heutigen Tag spreche ich zu gern über ihn.
»Nein, aber ich wünschte, es wäre so. Wer hätte wohl nicht von ihm gehört? Eine Legende, selbst in unserer Gegend, und dabei ist London so fern. Ja – ich habe viel über ihn gehört.« Er ritt eine geraume Weile stumm dahin, dann errötete er. Die dunkle Dame tat so, als hörte sie überhaupt nicht zu und rasselte ihrem Kind, das auf dem Schoß der Amme herumhüpfte, etwas mit der Silberrassel vor. »Sagt«, fuhr er fort, »was tut Ihr hier – und wo ist – der – ehem – hübsche – äh«
»Ihr meint den kühnen, jungen Knappen im Mönchsgewand?« fragte ich. Das Lied hatte ich zum ersten Mal im Gästehaus des Klosters gehört, wo es ein paar flegelhafte Fuhrleute, die lange beim Ale gesessen, unter unserem Fenster gesungen und alle damit erbost hatten.
»Ich wollte wirklich nicht, ehem –«
»Es stimmt nämlich ganz und gar nicht«, sagte ich, »obwohl die Geschichte so herum interessanter klingt.«
»Oh, ich habe sofort gewußt, daß sie nicht stimmt, gar nicht stimmen kann, aber –«
»Dann will ich es Euch verraten. Er ist in Frankreich und wird für tot gehalten. Aber Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr niemand erzählt, daß Ihr mir begegnet seid – meine Mädchen reden zuviel.«
»Oh, ja, ja. Falls Ihr einen neuen Mann
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