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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Geplapper wieder auf.
    »Ein Gedicht – Teil eines Gedichtes. Wie süß. Seine Herzenskönigin. Also dürfte er Euch geliebt haben. Eure Hände sind nämlich gar nicht so weiß. Um wirklich schön auszusehen, müßtet Ihr sie mit mehr Ringen schmücken. Eure sehen aus, als hättet Ihr tüchtig damit gearbeitet.«
    »Ich weiß. Aber für ihn waren sie so.«
    »Völlig vernarrt«, verkündete sie. Dann musterte sie mich eingehend. Was brütet sie jetzt schon wieder aus, dachte ich bei mir. Hoffentlich nichts Neues und Schlimmes.
    »Euer Kleid wirkt vorn ziemlich ausgebeult. Was bergt Ihr noch darin?«
    »Meinen Psalter«, sagte ich und griff in mein Überkleid.
    »Ah«, sagte sie. »Deshalb konnte ich Euch nicht umbringen lassen.« Sie durchstöberte einen kleinen Mantelsack zu ihren Füßen und zog eine winzige Schachtel hervor.
    »Mutter dieser Wilden, ich habe auch für Euch ein Geschenk. Es war für Hugo bestimmt. Ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist, daß ich es ihm nicht gegeben habe. Ein Verlobungsring. Aber nachdem er seine Seele der Hölle überantwortet und falsch Zeugnis auf das Wahre Kreuz abgelegt hat, fand ich, es reichte. Habt Ihr gesehen, wie er sich gedreht und gewunden hat? Als schmorte er bereits im Höllenfeuer.« Sehr zufrieden mit sich öffnete sie das Kästchen. Drinnen lag ein märchenhaft gearbeiteter, juwelenbesetzter Ring aus Gold und Silber, der war geformt wie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschluckt.
    »Nicht anfassen – er ist vergiftet. Einer der größten Giftmischer Roms hat ihn für mich angefertigt. Kann sein, Ihr braucht ihn eines Tages, um einen Ehemann loszuwerden. Oder selber der Welt zu entfliehen. Schiebt ihn einfach auf den Finger. Das Gift wirkt schnell und schmerzlos, obschon der Leichnam hinterher kein schöner Anblick ist. Ich trage dergleichen auch immer bei mir. Man kann nie wissen, wann einen das Leben einholt. Habe ich Euch schon von der Base meiner Großmutter erzählt? Die wurde mit ihren Töchtern bei lebendigem Leibe verbrannt, vorher aber häutete man ihre Söhne vor ihren Augen. Dort, woher ich komme, rottet man seine Feinde mit Stumpf und Stiel aus – so bleibt kein Rächer übrig. O ja, ein Ring wie dieser kann unendlich nützlich sein.«
    Mich schauderte, aber ich nahm das Kästchen und dankte ihr, so gut ich es vermochte. Sie gehörte nicht zu den Gastgeberinnen, die man vor den Kopf stoßen durfte. An jenem Abend wurden wir im Kloster prächtig untergebracht und speisten zur Rechten des Abtes höchstpersönlich. Und die ganze Zeit über jubelte meine Seele ›London, London und Freiheit‹.

    »Die Hexe ist entflohen!« brüllte Sir Hugo, als die Suchmannschaft ihm im Palas Bericht erstattete. »Um so besser. Die wird unterwegs ermordet und kann keinen Penny mehr für sich beanspruchen. Ich sollte ein Freudenfest feiern.« Wer im Hause auf Hugos Stern gesetzt hatte, grunzte und jubelte Beifall. Doch hinter dem Wandschirm scharte sich alles um den alten Lord, was auf dessen Genesung setzte. Er saß an die Kissen gelehnt und lächelte, und das wirkte wie ein Abglanz seines ehemals wölfischen Grinsens.
    »Das Kind ist in Sicherheit, Wat«, flüsterte er. »Langsam wird es interessant. Ich glaube, ich möchte wieder gesund werden. Bring mir Würzwein – aber gib erst den jungen Hunden davon. Mir gefällt die Nase der Amme da nicht, die Lady Petronilla mitgebracht hat.«
    So also standen die Dinge in den nächsten Tagen, als das Horn am Tor einen weiteren Besucher ankündigte und Sir William Beaufoy in Begleitung von zwölf Reisigen mit einer Botschaft Einlaß gewährte, welche das Siegel des Herzogs von Lancaster höchstpersönlich trug. An jenem Tag wurde im Palas Gericht abgehalten, und die Menge der Bauern machte der prächtigen Gesellschaft Platz. Sie strebte geradewegs zu Sir Hugos erhöhtem Sitz, von wo er an Stelle seines Vaters Recht sprach. Sir William hieß den Schreiber, welcher ihn begleitete, vortreten und der versammelten Menge den Brief vorlesen. Sein Inhalt machte, daß Sir Hugo erbleichte. Es schien, Sir Gilbert de Vilers hatte vor seinem Aufbruch in die Normandie ein Testament gemacht, in dem er alles seiner Wittib hinterließ, und es dem Herzog zur Verwahrung in England anvertraut. Und jetzt gemahnte der Herzog in dem bestimmten Ton des Lehnsherrn gegenüber einem weitaus niedrigeren Vasallen Sir Hubert und seinen ältesten Sohn daran, daß er, der Herzog, geschworen habe, Witwen und Waisen zu beschützen. Und er

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