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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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unvorsichtig.« Sie blickte auf einmal rührselig, aber dann lächelte sie und rümpfte die gepuderte Nase, während ihr Blick in die Ferne schweifte. »Wenn zuhause ein Gewitter aufzieht, verläßt man sein Land zuweilen lieber für ein Weilchen. Eine heilige Pilgerfahrt – so fromm, so tadelsfrei – und wenn man nach Hause kommt, scheint die Sonne wieder. Politik – Männerpolitik. Wie ein schwarzes Wölkchen, findet Ihr nicht auch? Man muß schon ausnehmend dumm und jung sein, um dazubleiben und Streit anzufangen.«
    Sie schwieg und sah mich mit neuerlichem Interesse an, so als hätte sie eine Stechmücke auf meiner Nase entdeckt. »Laßt Euch übrigens gut raten und haltet Euch beim Essen einen Vorkoster. Das ist nicht nur elegant, sondern auch praktisch. Wenn Ihr Euch keinen leisten könnt oder zu viele verliert, tun es auch Katzen. Die füttert Ihr unter dem Tisch. Das wird man Euch nur als überspannt ankreiden. Ich halte mir immer eine Menge Katzen. Darum bin ich auch so gut gefahren.« Sie nickte heiter, und ihr Geschmeide klingelte. Ich muß schon sagen, wenn solche Menschen ins Reden kommen, packt mich die Angst. Der Knabe krähte, und die Amme zog eine Rassel hervor und begann, ihm ein Liedchen zu summen. Ihre Damen fielen ein und sangen Worte, die ich nicht verstand. Ich hörte einen Bock durch das Unterholz brechen; die Männer wandten den Kopf, und ich sah, wie aus ihrer Wachsamkeit Bedauern wurde, als sie merkten, um was es sich handelte.
    »Ist es wirklich Hugos Kind?« fragte ich nur aus Höflichkeit.
    »Oh, der Knabe, natürlich. Mamas süßes Schätzchen. Schade, daß er ihn nicht anerkannt hat – er bekommt nämlich keinen Sohn mehr. Dafür sorge ich schon. Ich weiß genau, welche strega ich aufsuchen muß, die ihn dann mit einem Zauberbann belegt. Meine Rache ist absolut. Auf diese Weise bleibt hinterher kein heilloses Durcheinander. Warum ich Hugo nicht umbringe, weiß ich auch nicht. Wenn ich wollte, könnte ich vermutlich jemand schicken, der das erledigt. Aber wenn er lebt, muß er mehr leiden. War der jüngere Bruder wie Sir Hugo? Wenn ja, so seid froh, daß Ihr ihn los seid.«
    »Er hat ihm überhaupt nicht geähnelt. Nicht im geringsten. Er war dunkel und gelehrt und konnte Sir Hugo nicht ausstehen. Er hat gesagt – daß Hugo unzüchtig ist und daß – oh, er war so gut und so freundlich und –« bei dem Gedanken, wie sehr ich Gregory liebte, fing ich furchtbar an zu weinen. Sie drehte sich um und übersetzte es ihren Damen, die sehr interessiert wirkten und aus Mitgefühl auch ein, zwei Tränen vergossen.
    »Ah, man merkt, daß Ihr ihn geliebt habt. Dumm von Euch. Eine Frau sollte den Mann ihrer Liebe niemals heiraten, oder den Mann, den sie heiratet, nicht lieben. Das vernebelt das Hirn. Ich habe ein einziges Mal geliebt, aber das ist eine Krankheit, die vergeht. Nicht zu fassen – ich und frisch verwitwet und trauernd am Grab meines ersten Mannes. Was für ein hübsches Denkmal ich ihm doch gesetzt hatte. Alles sehr tragisch. Und dann kam er, der Eroberer aus fernen Landen, verdrehte seine feurigen, blauen Augen gen Himmel und schwor mir vor Gott ewige Liebe und Treue. Ich blickte auf von dem tränenüberströmten Stein – sein zum Himmel erhobenes Profil war das Abbild männlicher Inbrunst. Die Liebe, die dumme und verdummende Liebe, sie streckte mich wie ein feindliches Schwert ausgerechnet dort nieder.« Die dunkle Dame wirkte äußerst dramatisch. Zur Untermalung ihrer Worte ballte sie die Hände und schlug damit an ihre Brust, als wären sie ein niedersausendes Schwert. »Ich habe soviel gelitten und bin um meiner Liebe willen so weit gereist, aber jetzt bin ich richtig erleichtert, daß sie gestorben ist. Allmählich wurde sie zu einer lächerlichen Last. Jetzt bringe ich meine Ländereien in einen mächtigen Ehebund ein und halte mir Katzen.« Sie warf mir jählings einen scharfen Blick zu und sagte: »Hat er eigentlich Eure närrische Liebe erwidert?«
    »Zunächst habe ich nicht daran geglaubt, aber dann wurde mir klar, er liebt mich auch – er schrieb das hier, bevor – man ihn vermißte.« Und ich zog das Blatt Papier aus meinem Kleid. Warum ich so ehrlich war, weiß ich auch nicht. Aber anders konnte man einen so schwierigen und überaus furchteinflößenden Menschen wohl kaum nehmen. Die Damen beugten sich vor, um einen Blick auf das Papier zu erhaschen, und fielen gegeneinander, als der Wagen durch eine besonders arge Furche rumpelte. Danach nahmen sie ihr

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