Die Vision
unkrautüberwucherte Pflaster rumpelten, fing sie wieder an zu reden.
»Eure Schwierigkeiten rühren daher, daß Ihr die menschliche Natur nicht ergründet habt«, verkündete sie. »Also ich, ich weiß bestens Bescheid, denn ich habe begriffen, daß alle Menschen auf festen Bahnen wandeln wie die Wandelsterne auf ihren Umlaufbahnen. Wer diese Bahnen studiert hat, weiß, worauf alles hinausläuft. Nehmt beispielsweise Euch. Euer Mann ist tot, also erbt sein älterer Bruder. Der wird Euch einsperren, damit Ihr nicht heiraten könnt, und Eure Töchter müssen ins Kloster, wo sie nicht erben können, und er bekommt alles. Aber Ihr entflieht – das ist gefährlich. Für ihn wäre es am besten, er ließe Euch unterwegs umbringen und gäbe vor, Räuber hätten das getan. Ich weiß jedoch mittlerweile, daß Ihr zuviel Geld habt. Das bedeutet, der Lehnsherr Eures Mannes hat auch Interesse an Euch. Da er das Recht hat, Euch zu verheiraten, will er Euch als reiche Belohnung für einen seiner Gefolgsleute haben. Und daraus folgere ich: Sir Hugo sucht nach Euch, weil er sich auf keinen Fall das große Mißfallen eines hohen Herrn zuziehen will. Mein Fluch wirkt immer besser, findet Ihr nicht auch? Malt Euch einmal aus, wie er um mehr Zeit bettelt und fleht. Wahrscheinlich wird ihn der hohe Herr umbringen lassen. Hmm, wie wohl? Vergiften oder erdrosseln? Vielleicht sticht er ihm auch nur die Augen aus und wirft ihn für immer ins Verlies. Ach, was für ein prächtiger Fluch.«
»Das glaube ich einfach nicht. So macht man das hier nicht. Der Herzog ist ein sehr ehrenhafter Mensch, so sagt jedenfalls mein Mann.« Ich spürte, wie die zynischen Schlußfolgerungen dieser Frau mir Gift in die Seele träufelten. Noch ein paar Tage mit ihr, und ich traute keinem Menschen mehr über den Weg.
»Natürlich«, fuhr sie fröhlich fort, »könnte Euch sein Herzog auch für sich selbst haben wollen –«
Auf einmal fiel mir etwas Entsetzliches ein. Vor langer Zeit war einmal ein Kuppler mit einem Geschenk des Herzogs in Master Kendalls Haus erschienen, und ich hatte es zurückgeschickt.
»– und dann ist es durchaus möglich, daß er Euren Mann mit Absicht an einen gefährlichen Ort geschickt hat, so wie König David, als ihm Bathseba ins Auge stach –« ging ihr Plappermaul.
Mein Gott! War dergleichen möglich? Jetzt mußte ich zwei mächtigen Männern aus dem Weg gehen. Und von den zweien war Sir Hugo das geringere Übel, denn der Herzog hatte seine Leute überall. Wenn die mich fanden, war ich vollkommen rechtlos, da ich keinen Mann mehr hatte, und das Beste, was mir passieren konnte, war eine erzwungene Ehe. Wo sollte ich mich verstecken? Was sollte ich tun? Wie eine Ertrinkende klammerte ich mich an Gregorys Lobpreisung des Herzogs. Wenn der sagte, er wäre edel und ehrenhaft, dann mußte es stimmen. Doch angenommen, Gregory hätte sich getäuscht? Hatte mir die dunkle Dame das Hirn verdreht, oder war alles wirklich wahr?
»– und das wäre nur natürlich. Ihr seid nicht gerade eine Schönheit – tragt erstens zu wenig Geschmeide und pudert Euch zweitens das Gesicht nicht mit Reispuder, also leuchten Eure Wangen viel zu rosig. Aber hübsch seid Ihr schon, auf eine barbarische Art, und diese englischen Wilden haben ohnedies keinen Geschmack.« Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Zur Hölle mit Sir Hugo.« Dann blickte sie mich an. Wir näherten uns St. Alban's, und ich konnte jenseits des Ver, hinter Bäumen verborgen, die Türme der Abtei ausmachen. Nicht mehr weit, es ist nicht mehr weit, jubelte meine Seele.
Aber die dunkle Dame hatte keine Augen für den hübschen Anblick; sie wollte nur ihre Philosophie erläutern: »Nur eines stört die Umlaufbahnen. Das dürft Ihr nie vergessen. Die Liebe. Die hält sich nicht an die Regeln. Diesen Fehler habe ich einmal und nie wieder gemacht. Ich bin meiner Liebe bis ans Ende der Welt gefolgt. Das war nicht logisch. Aber er war logisch, und das war meine Rettung. Was hätte ich wohl mit einem englischen Schwein als Ehemann angefangen? Jetzt kann ich wieder meine richtige Bahn einnehmen. Wehe, Ihr kommt mich besuchen, kleine Barbarin, ich könnte meine Meinung über Euch jederzeit ändern.«
Lieber Gott, wenn wir nur erst in London wären.
In Ludgate ließ sie uns aussteigen, und sie fuhr über die Fleet Street zu den großen Palästen am Strand. Denn sie wollte bei vornehmen Freunden bleiben, bis sie Kunde hatte, ob sich ihr ›schwarzes, leidiges Wölkchen‹ in der
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