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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Hause.
    »Eine Wittib muß sich hübsch machen, sonst bekommt sie keinen neuen Mann. Überlegt Euch das – ich bin heute noch den ganzen Nachmittag hier, falls Ihr anderen Sinnes werdet.« Hier? Ja, hier – wo die Straße zwischen zwei windschiefen Mietshäusern anfing. Eine Frau verkaufte aus einem Eimer Dickmilch, zwei herumlungernde Lehrjungen feilschten mit einer alten Frau um einen fettigen, abgekühlten Fleischkuchen. Wäsche wehte vom ersten Stock wie Wimpel im Wind. ›Diebesgasse‹, Mutter Hilde und ein Zuhause, Gott sei Dank.
    Wir machten sorgsam einen Bogen um ein mächtiges Schwein, das sich mitten auf der Straße im sickernden Dreck suhlte, und gingen unter den überkragenden ersten Stockwerken der Mietshäuser entlang, wo Frauen sich aus den geöffneten Fenstern lehnten, um ihre Wäsche einzuholen und über die schmale Straße hinweg Klatsch auszutauschen. Irgendwo oben zwitscherte ein Vogel im Käfig, und ein alter, fahlfarbener Hund hob schlaftrunken den Kopf von den Pfoten und bellte uns von seiner Schwelle an. Auf der Hälfte des Weges machten wir vor einem alten, eingeschossigen Haus halt, das sich wie betrunken an seine Nachbarn zu lehnen schien. Das Vorderzimmer im ersten Stock, welches wie im Nachhinein angefügt wirkte, ragte so weit in die Straße, daß die Haustür in ewigem Schatten lag, und verhinderte, daß ein Berittener die ganze Gasse entlangreiten konnte.
    Die Tür hatte einen neuen Klopfer aus Eisen, der war gar farbenprächtig bemalt und wie ein Affengesicht geformt. Über uns sonnten sich im ersten Stockwerk in einem Blumenkasten Ringelblumen, und das Gebälk strahlte in frischer Farbenpracht. Mutter Hilde hat gedeihliche Zeiten, dachte ich. Ich weiß noch, daß das Dach Löcher hatte, als wir es zum ersten Mal sahen. Ich hob den Klopfer. Sicher antwortet nicht Bruder Malachi, sagte ich bei mir. Das Wetter ist noch schön, der macht vor Einsetzen des Herbstregens nicht Schluß mit dem Sommergeschäft. Er dürfte noch unterwegs sein. Mutter Hilde lebt mit Bruder Malachi zusammen, der niemandes Bruder ist, aber er war, glaube ich, einst Mönch, ehe er den Handel mit gefälschten Ablaßbriefen aufnahm. Er verkauft auch Reliquien, die er selber aus allerlei Krimskrams herstellt. Er behauptet, er verkaufe beileibe keine Fälschungen, sondern ausgesprochen echte Dinge wie Glaube und Hoffnung, und Papier und Schweineknöchelchen dienten nur dazu, diese zu vermitteln. Außerdem läßt er immer mit sich handeln. Wenigstens behauptet er das.
    Im Winter bleibt Bruder Malachi daheim und arbeitet in seinem wahren Beruf, das heißt, er sucht den Stein der Weisen. Dazu braucht er das ganze Hinterzimmer des Hauses, denn der Stein der Weisen läßt sich nur mit einer Menge seltsamer Gerätschaften und wahren Wolken übler Gerüche finden. Als ich noch hier wohnte, hatte er einen Knaben namens Sim, den wir in der Gosse aufgelesen hatten, der mußte für ihn den Blaseblag bedienen und Feuer anlegen und Botengänge für ihn machen. Vielleicht würde Sim auf mein Klopfen antworten.
    Aber ich fuhr zurück, als eine fremde Frau die Tür öffnete. Sie war ein wenig größer als ich, hatte ein kräftiges, grobknochiges Gesicht und glanzloses, eher dunkles Haar, das unter einem schlichten Kopftuch steckte. Hinter ihr konnte ich im Zimmer ein Mädchen von ungefähr zwölf Lenzen erblicken, das hörte auf, die Feuerstelle mit einem Reisigbesen zu kehren, und drehte sich nach den Neuankömmlingen auf der Schwelle um. Das Zimmer jedoch sah noch seltsamer aus. Freilich, in der Herdstelle loderte das Feuer wie eh und je, und der Deckel des Kochtopfes klapperte wie in alten Zeiten, aber sonst war alles anders: Die niedrigen Dachbalken strahlten hellrot, und die Decke dazwischen leuchtete jetzt dunkelblau wie der Nachthimmel und wies funkelnde Goldtupfer in Form von Sternenkonstellationen auf. Inmitten einer jeden prangte in leuchtenden Farben ein phantasievolles Abbild des jeweiligen Tierkreiszeichens. Die Zwillinge völlig nackt, abgesehen von zwei großen Feigenblättern, der Skorpion mit seinem Giftstachel, der Steinbock als Ziege mit einem kleinen Bart und gedrehten Hörnern. Die Wände zwischen den hellroten Balken waren so grün wie junges Blattwerk. Frische Farbe, noch nicht vom Kerzenrauch angerußt.
    Auf einmal war ich verstört und sprachlos. Wer um alles mochte hier jetzt wohnen? War Mutter Hilde gestorben?
    »Braucht Ihr eine Wehmutter?« fragte die Frau nicht unfreundlich und musterte mein

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