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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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erschrockenes Gesicht und die beiden kleinen Mädchen, die sich an meine Röcke klammerten.
    »Wir wollen zu Mutter Hilde«, sagte Alison vom sicheren Hort hinter mir. »Sie hat Süßigkeiten.« Die Frau lächelte.
    »Sie ist doch da, oder?« fragte ich mit recht unsicherer Stimme.
    »Aber ja doch – wen soll ich ihr melden?«
    »Sagt ihr, es ist Margaret, und sie ist in großer Not.«
    »Oh, Margaret «, erwiderte die Frau, so als hätte sie schon von mir gehört. »Natürlich, sie ist hinten – geht nur durch.« Als ich an dem Mädchen vorbeiging, zupfte es mich am Ärmel und sagte schüchtern:
    »Ich bin Bet; das ist meine Mutter. Sie lernt jetzt auch bei Mutter Hilde.«
    Und Cecily blickte sie mit großen Augen an und fragte: »Wenn du hier bei Mutter Hilde wohnst, ißt du dann jeden Tag Süßigkeiten?«
    »Natürlich«, sagte Bet auf ihren Besen gelehnt. »Sowas essen wir statt Gemüse zu den Mahlzeiten.« Und ehe ihre Mutter ihr Einhalt gebieten konnte, band sie ihnen einen solchen Bären auf, daß wir beide lachen mußten.
    »Weiter«, sagte Cecily, und sie und Alison setzten sich auf die Bank und zogen die Füße hoch und lauschten, während ich durch das Hinterzimmer ging und Mutter Hilde im Garten hinter dem Haus fand. In Bruder Malachis dunklem und dämmrigen Zimmer sah ich seine Sachen säuberlich verpackt stehen, alles, außer dem Alembik, der zu sperrig ist. In seinem Andachtswinkel erblickte ich das kleine Kruzifix, und ich bekreuzigte mich beim Gedanken daran, wieviele Male ich ihn morgens – und auch zu nachtschlafender Zeit – dort gesehen hatte, wie er im Schein einer einzigen Kerze betete, denn an ein besonders schwieriges Experiment wagte er sich nur reinen Herzens.
    Mein Gott, wenn ich doch nur seine rundliche Gestalt dort sehen könnte, die sich umdrehen und mir Schweigen gebieten würde: ›Margaret! Vermutlich bedeutet dieses infernalische Getrampel, daß du wie auf Katzenpfoten schleichst! Weißt du denn immer noch nicht, daß man mich um diese Zeit nicht stören darf? Es besteht kein Anlaß, nicht der allergeringste Anlaß, durch dieses Zimmer zu gehen, während ich arbeite! Wieviel Mal muß ich dir noch sagen, daß du aus der Haustür und durch die Seitenpforte in den Garten gehen sollst? Respektiert hier denn niemand, keine einzige Menschenseele, einen Mann auf der Suche nach der ewigen Wahrheit? Außer natürlich – ah! Hast du mir etwa Essen gebracht? Stell es auf die Bank. Ich hatte ganz vergessen, daß ich Hunger habe –‹ Malachi würde gewählte Worte für Hugo finden und etwas Humorvolles sagen, das alles wieder ins Lot brachte, wenn er nur hier wäre.
    Einen Augenblick lang blendete mich das Licht an der Hintertür, aber dann konnte ich Mutter Hilde in der gelben Herbstsonne ausmachen. Sie verteilte mit einer Harke Hühnerdung um ihre Kohlköpfe, und beim Harken beugte sie sich vor und richtete an jeden einzelnen Kohlkopf ein paar Worte. Tief brauchte sie sich nicht zu bücken, denn sie war nicht sehr groß, und ihre Kohlköpfe waren riesig – ausladende, grüne Kugeln mit einem Röckchen aus gekräuselten, grünen Blättern, die mehr als kniehoch standen. Alle Welt glaubt, das macht der Same, den sie jedes Jahr von den besonders großen abnimmt, doch ich weiß, das Geheimnis liegt nicht im Samen, sondern darin, daß sie mit ihnen spricht.
    »Du siehst heute aber ein wenig gelblich und blaß aus«, sagt sie wohl, und dann legt sie ihren Kopf im Kopftuch schief, so als hörte sie ihm zu. Dann holt sie wohl einen Eimer Wasser vom Brunnen oder gräbt um seine Wurzeln herum, bis er sich wieder aufrichtet. Auf diese Weise hat sie die Rosen dazu gebracht, über den ganzen Eselstall zu ranken, wo früher nichts als Unkraut wucherte. Und ihre Kräuter, die kunterbunt überall im Garten wachsen, haben einen durchdringenden, wilden Duft, so als wüchsen sie auf dem Lande.
    »Sie sind wie die Menschen, Margaret, man muß sie pflanzen, wo ihnen die Gesellschaft behagt«, sagt sie dann wohl und setzt eine Ringelblume zwischen Möhren, oder versetzt einen Fenchelschößling an ein sonniges Fleckchen an der Schuppenwand. »Denk daran, daß Pastinaken keine Gesellschaft brauchen, die sind wie die Kontemplativen; sie wachsen allein für sich, und niemand darf sie belästigen. Aber Salat, oh, der ist gesellig. Und zartbesaitet. Kaum ist es warm, schon wird er leichtfertig und schießt.« Ihre Bohnenstangen standen wie kleine Zelte zwischen den Rosen. Die mußten bald gepflückt werden.

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