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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Außenpolitik verzogen hatte und sie getrost heimkehren konnte. Wir passierten das Tor inmitten einer Menge, die nach der Messe aus St. Martin's strömte, einer Kirche, die gleich hinter dem Tor kommt.
    Vor uns dräute massig St. Paul's mit ihrem hohen Turm. Ich mußte einfach stehenbleiben, denn Erinnerungen überfielen mich. Dort hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen, meinen Gregory, im Kirchenschiff. Wir hatten uns überhaupt nicht gemocht. Ich hatte nach einem Kopisten Ausschau gehalten, und er hatte gerade festgestellt, daß man von der Kontemplation nicht leben konnte. Er verkündete, er sei ganz und gar mit der Gottsuche beschäftigt und könne deshalb nicht den Unsinn eines eingebildeten, halsstarrigen Frauenzimmers wie ich es sei aufschreiben, und ich sagte bei mir: Was weiß denn der schon! Das ist ja wohl der überheblichste Mann, der je im Habit herumgelaufen ist. Und als er die Arbeit am Ende übernahm, verkündete er, daß Gott damit seine Demut auf die Probe stellen wolle. Anscheinend hatte ihm irgend so ein geistlicher Berater gesagt, daß er demütig werden müsse, wenn er Gott sehen wolle, und so lief er herum und hortete Demut wie ein anderer Goldstücke. Demut im Wert von zehn Pfund, lieber Gott. Jetzt offenbare dich; kann ich eine Quittung haben? Männer! Alle gleich – zäumen das Pferd am Schwanz auf. Doch so geht es uns Frauen. Trotz unseres gesunden Menschenverstandes erlauben wir Einfaltspinseln, daß sie sich in unserem Herzen einnisten.
    Wir bogen nach links ab, kamen am bischöflichen Palast vorbei, der mir bis auf den heutigen Tag eine Gänsehaut macht, dann schlugen wir den Shambles in Richtung des Cheap ein. Die Geflügelhändler hatten Hühner und Gänse an den Beinen vor ihre Läden gehängt, und wir mußten vorsichtig einen Bogen um die Abfallhaufen vor den Schlachtereien machen.
    »Mama, hier geht es aber nicht nach Haus, nein?« fragte Cecily, während sie und ihre Schwester neben mir entlangzockelten. Bei einer Frau, die auf dem Cheap auf ihrem Umschlagtuch Haarbänder ausgebreitet hatte, zog Alison mich an der Hand. »Hübsch, Mama. Kaufst du mir das Rote?« Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, Cecily, wir gehen nicht nach Haus. Wenn ich Hugo wäre, würde ich dort als erstes suchen. Wir gehen zu Mutter Hilde. Hugo hat keine Ahnung, wer sie ist, und wird uns dort niemals finden. Und sie kann mir auch beim Nachdenken über unsere Zukunft helfen.«
    »Mutter Hilde hat Süßigkeiten!« verkündete Alison fröhlich, und bei dem Gedanken hüpften die Mädchen auf einmal die Straße entlang und sprangen vor Freude über die Rinnsteine.
    Wenn ich meine Tatkraft auch nur so rasch zurückgewinnen könnte wie sie. Aber in den ersten Schwangerschaftsmonaten ermüde ich immer so rasch.
    Als wir jedoch nach Cornhill abbogen und die Häuser immer schäbiger wurden, da schlug auch mein Herz höher und jauchzte und schöpfte wieder Hoffnung. Mutter Hilde bringt alles in Ordnung! Sie sieht es im Traum, oder sie kennt jemanden, dem es ähnlich ergangen ist, nur besser. Ein gebrochenes Herz ist für Mutter Hilde Kleckerkram, sie kann alles heilen! Ich werde ihr von Gregorys gräßlicher Familie erzählen, und sie schnalzt dann wohl mit der Zunge und sagt: ›O je, o je! Schlimm für dich, aber ich habe schon Schlimmeres gesehen! Schüre das Feuer für mich, mein Schatz, und schenk dir noch einen Becher Ale ein. Wissen deine Kinderchen schon, wie man aus einem trockenen Apfel eine Puppe macht? Dann singe ich ihnen jetzt das Lied von der Heuschrecke und der Ameise vor.‹ Bei Mutter Hilde ist es besser als zu Hause.
    Wir waren beinahe da; die enge Einmündung der St. Katherine's Street, ein eher großartiger Name für eine überwucherte Gosse, war fast ganz durch die Auslagen der Straßenhändler verdeckt. Nichts paßte zueinander: ein Becher, ein paar Löffel, eine Kappe, ein Paar abgetragene Handschuhe, einige verbeulte Töpfe. Meistens heißt die St. Katherine's Street ›Diebesgasse‹, denn wenn man nach einem üblen Kerl sucht oder nach einem Ort, wo man Gestohlenes heimlich verkaufen kann, so ist man hier richtig. Aber die Mieten sind niedrig, und die meisten Bewohner gehen trotz des Namens einer ehrbaren Beschäftigung nach.
    Ein Mann streifte mich auf der Straße und schlug seinen Umhang auf, um mir einen polierten Silberspiegel und einen Kamm zu zeigen.
    »Für Euch, ein gutes Geschäft!« sagte er. Ich schüttelte den Kopf und lächelte. Natürlich gestohlen. Fürwahr, ich war fast zu

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