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Die Visionen von Tarot

Die Visionen von Tarot

Titel: Die Visionen von Tarot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Anthony
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benutzt hat, um Schmuckstücke anzubringen.
    Dieser behauene Felsen von rötlicher Farbe strahlt eine ungeheure Wirkung aus, wie er dort ruhend die Wüste überblickt. Die Sphinx ist wie ein in Aufmerksamkeit angespanntes Phantom – man möchte fast meinen, sie lauscht und sieht richtig. Das große Ohr scheint alle Geräusche der Vergangenheit zu vernehmen; die Augen, nach Osten gerichtet, scheinen in die nebelhafte Zukunft zu blicken. Der Blick hat eine Tiefe und Starrheit, die den Betrachterfaszinieren. In dieser Statue erblickt man eine sonderbare Majestät, eine große Würde und sogar eine gewisse Sanftheit.
    Paul Christian, The History and Practice of Magic,
    New York 1969
     
    Bruder Paul stand vor der Sphinx. Das Steinwesen wirkte im Licht des Vollmondes beeindruckend, um so mehr, als seine Nase intakt war: Dies war offensichtlich vor dem Zeitpunkt, als Napoleons Kanoniere sie abschossen.
    Was für ein Tier, das dort wie ein lebendiges Wesen kauerte! Bruder Paul spürte ein Kribbeln im Nacken. Das war eine Animation – aber konnte er wirklich sicher sein, daß diese Kreatur nicht lebte?
    Aber sie lag absolut reglos. Kein Atem, kein Puls, keine Bewegung der Augen. Leblos. Glücklicherweise.
    Aber er würde es doch nachprüfen, einfach um sicherzugehen., „Der Sexualtrieb des Kamels ist weitaus stärker, als man glaubt’“, sagte er laut und zitierte aus dem Gedächtnis ein Gedicht aus der Zeit vor seinem Eintritt in den Heiligen Orden der Vision. „’Eines Tages, bei einem Treck durch die Wüste, hat es die Sphinx aufs größte beleidigt.’“
    Er hielt inne, lauschte, beobachtete. Keine Reaktion. War das Monster wirklich leblos, oder wartete es noch?, „Heute ist die Sphinx fast verwaschen durch die Wasser des Nil, das Kamel aber hat den Höcker noch, und die Sphinx, die lächelt noch still.“
    Immer noch nichts.
    Kein Zweifel. Wenn sich das Wesen ruhig diese Verse angehört hatte, dann mußte es tot sein.
    Er betrachtete die einzelnen Teile der Figur. Ein Frauenkopf, der an menschliche Intelligenz, Streben und Strategie denken ließ. Ein Bullenkörper, der die unerschöpfliche Kraft auf der Jagd nach dem menschlichen Glück andeutete. Löwenbeine, die für ebenfalls erforderlichen Mut und Kraft standen, nämlich für den menschlichen Willen. Und Adlerflügel, die jene Intelligenz, Stärke und Mut verhüllten, bis die Zeit zum Fliegen käme. So bildete die Sphinx als Ganzes das Symbol verhüllter Intelligenz, Stärke und Willen, den die Herren der Zeit besitzen.
    Berühmte Griechen waren hierhergekommen, um zu den Füßen der Meister zu studieren: Thaies, Pythagoras, Plato und viele andere.
    Thaies war der erste gewesen, der Wasser als wichtigste Substanz des Universums erkannt hatte, welche sowohl Veränderungen als auch Beständigkeit erklärte. Pythagoras, bekannt durch seine Doktrin der Seelenwanderung und den Satz des Pythagoras. Plato, ursprünglich bekannt durch seine Dialoge mit seinem Lehrer Sokrates und durch die These, daß Wissen gut, Ignoranz hingegen schlecht sei. Alles Giganten der Philosophie. Jetzt war Bruder Paul an der Reihe, mit jenen Meistern der berühmten Griechen zusammenzutreffen – wenn er sich traute.
    Es war noch Zeit. Bruder Paul trat vor die Sphinx hin. Zwischen den ausgestreckten Vorderpfoten erkannte man in der Brust die Umrisse einer Tür. Sie bestand aus Bronze und war so verwittert, daß sie zum Stein der Statue paßte. Er ging darauf zu, holte tief Luft und streckte eine Hand aus, sie zu berühren.
    Nichts geschah. Das Metall bleib neutral, weder kühl noch heiß, und es war fest. Er tastete den Rand ab, ob er eine Klinke oder einen Hebel fände, aber da war nichts. Er konnte die Tür nicht öffnen.
    Stumm seufzte er. Er hob eine Hand hoch und klopfte einmal. Keine Antwort. Wollte er wirklich hier hinein? Wieder pochte er, und dann ein drittes Mal. Theoretisch gesehen, hatten die alten Meister über sämtliches Wissen verfügt und konnten seine Fragen beantworten – wenn sie nur wollten. Aber zunächst mußte er sich ihren Riten des Eintritts unterziehen. Und das konnte, wenn man den alten Legenden glaubte, gefährlich sein. Aber er klopfte weiter, halb in der Hoffnung, niemand würde reagieren. Dann, beim fünften Pochen, öffnete sich die Tür lautlos.
    Drinnen standen zwei mit Kapuzen verhüllte Gestalten, deren Gesichter nicht erkennbar waren. Eine schien durch ihre kräftige Gestalt und Haltung männlich zu sein, die andere war kleiner und zierlicher –

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