Die Visionen von Tarot
für Stärke oder Glückhaftigkeit oder Disziplin war durch die Thoth-Version als Lust definiert worden. Vielleicht benötigte man hier zwei Karten. Doch waren Glückhaftigkeit und Disziplin identische Vorstellungen? Vielleicht sollte man sie besser wieder trennen und neue Karten einsetzen, die diesem Zweck dienten – die man vielleicht besser Wille nannte.
Liebe ist das Gesetz – Liebe aus freiem Willen! Man brauchte dieses Wortspiel gar nicht zu verstehen; der Begriff stand für sich selber. Es hatte extremer Glückhaftigkeit bedurft, hier zu überdauern. Es hatte eines starken Willens bedurft.
Pauls Frage traf in jedem Fall auf Wills Spezialgebiet zu. Plötzlich wurde Paul wieder zum Studenten und Will zum Lehrer, und das Thema hieß: Das College gestern und morgen.
„Ich weiß kaum, wo ich beginnen soll“, sagte Will. „Als Sie hier waren, war das College noch keine zwanzig Jahre alt …“
„Ja“, stimmte Paul ihm zu. „Als ich ankam, bestand das College seit vierzehn Jahren, und als ich es verließ, achtzehn Jahre lang. Einige Studenten waren ebenso alt.“ Und es hatte sich wahrlich auch um die Pubertätszeit des Colleges gehandelt! Paul hingegen war vier Jahre älter als das College; das reichte jedoch für eine starke Identifikation.
„Ich würde sagen, in den ersten acht Jahren des Beginns lag das Hauptaugenmerk auf dem College als einer Gemeinschaft und als Teil einer größeren Gemeinschaft“, sagte Will. „Dann folgte eine Dekade, in der man sich mit der Art und Weise von Lernprozessen befaßte, mit Experimenten der Lehrmethoden und der Didaktik …“
Das war Pauls Periode gewesen. Er erinnerte sich: Philosophiekurse, die draußen auf der Wiese abgehalten wurden, Studenten, die in der Sonne einschliefen, Geologie bei einem Spaziergang am Fluß, wo man lernte, ihn mit völlig andersartiger Wahrnehmung zu betrachten, seine Wirkung auf die Landschaft, die Moräne und die Ablagerungen; Kunst gab es über den gesamten Campus verstreut, und man verbrachte zwei Stunden damit, sich die Gegend anzusehen, ehe man den ersten Pinselstrich tat, und die Lehrer hatten dies akzeptiert. Paul besaß dieses Bild heute noch – kein Meisterwerk, aber ein weiterer Beweis dessen, was er alles gelernt hatte. Laienspiel: die Stücke und Stückchen, die sie auf der Bühne oder auf Tournee in jedem verfügbaren winzigen Raum aufgeführt hatten. Großartige Übungen für die Vielseitigkeit des Ausdrucks. Die Umkleideräume waren oft nicht ausreichend gewesen; Paul waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als er zum ersten Mal die hübsche Hauptdarstellerin beim Umziehen erblickte – mitten in dem überfüllten Raum hinter der Bühne, während er und die anderen mit Make-up und Abschminke und so weiter kämpften. Sie hatte Karriere als Schauspielerin gemacht, sich aber später bei einem Skiunfall ein Bein gebrochen. Das hatte augenscheinlich auch ihre Karriere beeinflußt. In allen Kursen hatte die Diskussion und nicht die Vorlesung vorgeherrscht, wobei alle Standpunkte berücksichtigt wurden. Ja, das war die Sache schon wert gewesen! Will nannte es: „Schwerpunkt auf den Lernprozessen.“ Paul nannte es: „Lernen lernen.“ Wie deutlich nun alles zurückkehrte!
„Dann folgte ein Zeitraum von etwa acht Jahren, wo man sich sehr stark mit Curriculum-Experimenten beschäftigte“, fuhr Will fort. „Es gab einen starken Einfluß von einer Reihe von Sozial Wissenschaftlern und Psychologen.“
Das waren die Jahre unmittelbar nach Pauls Abschied. Es hatte für ihn eher nach Desorganisation geklungen – wie es auch Pauls Leben selbst gewesen war. Für das College war es das Alter zwischen neunzehn und sechsundzwanzig – frühe Reife, aber nicht notwendigerweise das Alter der besten Urteilskraft. Ein gutes Alter, um auf den Rat von Experten zu hören. Hatte dieser Rat das Normenkontrollkomittee abgeschafft und den Weg gebahnt für eine Neuordnung der Wohnheime? Hatte es die Herrschaft durch die Gemeinschaft wieder eingeführt und die Fakultätsoligarchie abgeschafft?
„Sechs Jahre, in denen das College versuchte, zu wachsen und gleichzeitig klein zu bleiben“, fuhr Will fort. „Das geschah, indem man die wachsende Studentenzahl einteilte in zwei relativ voneinander getrennte Campusgruppen und indem man Studenten und Fakultät in ‚Leben-Lernen-Einheiten’ organisierte.“
Das Alter zwischen siebenundzwanzig und zweiunddreißig, dachte Paul. Die Zeit zum Heiraten und um sich niederzulassen. Aber wie
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