Die Visionen von Tarot
spielt keine Rolle“, meinte Jesus, „solange man einen Tag von sieben nimmt, um meinen Vater zu ehren.“
Sie schliefen ein, denn alles war sehr ermüdend gewesen. Bruder Paul hatte einen Alptraum mit Demütigungen und Agonie und erwachte mit der Erkenntnis, daß diese Leiden nicht ihm, sondern den Gedanken Jesu entstammten. Sonderbarerweise war der Durst am schlimmsten gewesen, nicht die Nägel oder der Spott.
Als der Abend kam, weckte Jesus Bruder Paul. „Komm, wir müssen zum Grab.“
Ruhig machten sie sich auf den Weg, verließen den Raum, dann die Stadt und gingen zur Schädelstätte, wo man Jesu Leichnam in einer Grabhöhle versiegelt hatte. Die Nacht senkte sich bereits herab, und die Wachen am Tor blickten Bruder Paul neugierig an, weil nur wenige Leute des Nachts die Stadt verließen.
Plötzlich zitterte die Erde. Ein weiteres Erdbeben! Bruder Paul wurde zu Boden geschleudert … doch bald darauf beruhigte sich der Boden wieder. Paul hatte nur ein paar Abschürfungen bekommen und war schmutzig geworden. Sie gingen weiter.
Das Beben hatte noch weiteren Schaden angerichtet. Der große Stein, den man vor den Grabeingang gerollt hatte, war beiseite geworfen worden. „Danke, Vater“, sagte Jesus. Dann zu Bruder Paul gewandt: „Wir müssen den Körper fortnehmen und irgendwo vergraben, wo ihn niemand findet.“
Bruder Paul stellte keine Fragen. Wenn er einmal beginnen würde, Fragen zu stellen, würde er nie wieder aufhören. Er betrat die stille Grabkammer.
Dort lag der Leichnam, durch das Beben hochgeschleudert, häßlich. Bruder Paul faßte sich ein Herz und berührte ihn, wickelte die Tücher ab und schleppte ihn aus dem Grab. Er versuchte, die Nase gegenüber dem vermeintlichen Geruch zu versperren. Er schleppte ihn unter ein Gebüsch im Garten, fand dann ein geeignetes Stück Gestein und schaufelte ein so tiefes Grab, wie er nur konnte. Im Dunkeln bedeutete dies mühselige Arbeit, und jedes Mal, wenn er ein Geräusch zu vernehmen glaubte, hielt er inne, wagte kaum zu atmen, aus Angst, die Wachen würden zurückkehren. Sie waren offensichtlich aus Furcht vor dem Beben davongelaufen, doch es würde sie nicht auf ewig fernhalten.
Schließlich war das Loch tief genug. Er legte den Leichnam hinein, schaufelte die Erde darüber und trampelte sie gut fest. Aber das frische Grab würde im Tageslicht auffallen. Um es zu tarnen, mußte er einen Busch entwurzeln, direkt über das Grab pflanzen und dann die überschüssige Erde so verteilen, daß es keinen Grabhügel gab. Wenn jemand in der Grube, wo der Busch gestanden hatte, nachsah, würde er natürlich nichts finden. Würde dies reichen, den Leichnam zu verbergen? Die Zeit würde es ihm sagen!
Wieder gab es ein Geräusch. Dieses Mal kam wirklich jemand. Es war noch nicht Morgen, aber im Osten zeigte sich schon ein schwacher Schein. Bruder Paul eilte von der Grabstätte fort und stellte sich neben das leere Grab, wobei er versuchte, sich den verräterischen Schmutz von den Händen zu wischen.
Die Gestalt näherte sich dem Grab … und sah, daß es leer war. Man hörte einen leisen Schrei. „Maria Magdalena!“ rief Jesus Bruder Paul zu. „Sie hätte ich geheiratet, wenn …“ Man sah das geistige Bild eines Skalpells, die Klinge, die Jesu Aussichten auf ein normales Leben zerstörte hatte, lange bevor er sich solcher Dinge bewußt sein konnte.
Als die Sonne aufgegangen war, erschien Maria Magdalena zusammen mit zwei Jüngern erneut. Die Männer rannten auf das Grab zu. Sie fanden die Leichentücher, die Bruder Paul zurückgelassen hatte, und eilten dann aufgeregt zurück in die Stadt. Nur Maria blieb zurück und blieb abwartend vor dem Grab stehen. Sie begrub das Gesicht in den Händen.
„Zur Hölle mit der Geschichte“, meinte Bruder Paul. „Man muß sie trösten.“ Er ging zu ihr. „Frau, warum weinest du?“ fragte er.
Erstaunt blickte sie auf. Sie war eine hübsche junge Frau, und er wußte, wer die Rolle spielte. Sie erkannte ihn nicht. „Mein Herr, wenn Ihr ihn fortgenommen habt, dann sagt mir, wo er ist, und ich will …“
Nun redete Jesus mit Bruder Pauls Lippen. „Maria!“
Maria riß die Augen auf. „Mein Meister!“ rief sie und trat auf ihn zu.
„Komm mir nicht zu nahe“, sagte Jesus und trat zurück. „Denn ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgestiegen. Geh zu meinen Brüdern und erzähle ihnen, ich ginge zu meinem Vater und deinem Vater, meinem Gott und eurem Gott.“
Dumpf nickte sie. Liebe und Hoffnung ließen
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