Die Visionen von Tarot
jemand anderen. Jesu Auferstehung würde als Mummenschanz erscheinen und bedeutungslos bleiben, wenn sein Tod nicht dramatisch wäre, aber ohne die Auferstehung würde der Tod auch nutzlos sein. Das war also nicht das Ende der Geschichte – es war die Zentralstelle, der bedeutsame Wendepunkt, die Schlüsselsituation bei der Begründung einer Religion.
Und wenn sich die Aura bei Jesu Tod auflöste? Wenn es keine Auferstehung und keinen Heiligen Geist geben würde? Wo blieb dann sein Glaube?
Zitternd kam Bruder Paul auf die Beine und ging auf das Kreuz zu. Niemand hinderte ihn: Dunkelheit und Sturm hatten die Menge zerstreut. Hastig entfernte sich auch der Statthalter Pilatus und ließ nur wenige Bewacher auf der Kreuzigungsstätte zurück. Sie hatten sich von der ursprünglichen Überraschung so weit erholt, daß sie zu ihrer vorigen Beschäftigung zurückkehrten: dem Würfelspiel. Es ging um Jesu Kleider, insbesondere die nahtlose Robe: Wer würde sie gewinnen?
Als Paul sich näherte, manifestierte sich die Aura. Er konnte sie nun schon aus einiger Entfernung spüren. Je dichter er herankam, desto intensiver wurde sie, bis er unmittelbar vor dem Gekreuzigten stand.
Der Gehenkte: die Karte des Tarotspiels, einer der Größeren Arkanen. Nun kannte er den ursprünglichen Bezug für diese Karte: Jesus, der Gekreuzigte. Umgekehrt auf der Karte, denn alles war hier umgedreht: Der Unschuldige litt für den Schuldigen – aus freiem Willen. Opfer.
Jesus öffnete die Augen, weil er Bruder Paul spürte. „Wo bist du gewesen, nicht jüdischer Freund?“ fragte er. „Vier Jahre lang habe ich dich gesucht, nachdem du mir beim Teich das Leben gerettet hattest und verschwunden warst, und ich habe versucht, deine Vorschläge in die Tat umzusetzen …“
„Nein!“ wehrte sich Bruder Paul. „Ich trage dafür keine Verantwortung.“
„Durch dich habe ich gelernt, die Macht der Parabel zu benutzen. Es ist ein höchst wirksames Lehrmittel. Um deinetwillen habe ich mich an Nichtjuden ebenso gewandt wie an Juden. Ich habe immer nach deiner Aura gesucht …“
„Nein, nein“, protestierte Bruder Paul schwach. „Du hast das alles allein getan! Ich kam nur zufällig vorbei …“
„Außer zuweilen, wenn das Temperament mit mir durchging. Einmal habe ich einen Feigenbaum verflucht, weil er keine Früchte trug, und der Baum welkte und starb ab. Das war falsch.“
„Siddhattha hätte keinen Feigenbaum verflucht“, stimmte Bruder Paul zu. „Ein solcher Baum bildete den Hintergrund bei seiner Erleuchtung.“
„Wer..?“
„Ein anderer großer Lehrer, den man Buddha nannte. Aber jeder Mensch muß nach seiner eigenen Erleuchtung suchen. Du hast getan, was das Schicksal dir bestimmt hatte. Ich hatte daran keinen Anteil …“
Die Augen flackerten ihn an. „Leugnest du nun, wo das Ende kommt, auch unsere Freundschaft, Paul?“
Bruder Paul war betroffen und reckte sich, um Jesu Knie zu berühren. „Nein, niemals! Ich habe nur gemeint, es kommt mir kein Verdienst für deine Leistungen zu. Du bist der Sohn Gottes, der Erlöser. Ich bin nur …“
„Ein Freund“, beendete Jesus für ihn den Satz. „Und was für ein größeres Verdienst könnte es geben?“
Ein Soldat blickte auf. „Geh da vom Kreuz weg … er ist noch nicht tot“, schnappte er. Aber Longinus, der sich auf seinen Speer lehnte, murmelte etwas, und der Mann wandte sich ab.
„Lebe wohl“, sagte Bruder Paul. Seine Augen brannten. Er brach den Kontakt ab und trat zurück – und irgend etwas fiel auf seinen Handrücken. Es war ein Blutstropfen Jesu aus der Nagelwunde, die Bruder Paul ihm beigebracht hatte.
„Das war mein Schicksal“, sagte Jesus.
„Wenn ich etwas tun kann …“ sagte Bruder Paul und blickte auf das Blut. Aber was konnte er schon tun?
Wie betäubt ging er fort, setzte sich auf den Boden und wartete auf das Unvermeidliche. Langsam verstrich die Zeit. Der Himmel klärte sich auf, und die Nachmittagssonne erschien. Von Zeit zu Zeit näherten sich verschiedene Personen dem Kreuz, um mit Jesus zu sprechen, und manchmal schrie Jesus vor Schmerz und Verzweiflung auf, weil das Körpergewicht an den Nägeln zerrte, aber er wehrte sich nicht. Bruder Paul versuchte, seine Ohren dagegen zu feien, fühlte sich aber gleichzeitig deswegen schuldig. „Christus ist die Schuld“, murmelte er. „Wenn er leiden kann, dann muß ich es zumindest wahrnehmen.“
Dann sagte Jesus deutlich und klar: „Mich dürstet.“
Ein Soldat tauchte einen Schwamm
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