Die Voegel der Finsternis
Kutschbock.
Maeve war noch nie einen ganzen Tag, eine Nacht und einen Vormittag hintereinander wach geblieben. Die Müdigkeit zehrte an ihren Gliedern und ihr Herz wand sich vor Angst. Bevor sie den Traumwenstein nicht gefunden hatte, durfte sie nicht einschlafen. Lila hatte gesagt, Lord Morlen sei ein Ebrowen. Wenn er ihre Träume heimsuchte, würde er wissen, wo sie sich befand und was sie vorhatte.
Devins Hand, die in der ihren lag, mahnte sie daran, dass sie sich mit dem Jungen noch größerer Gefahr aussetzte. Wenn Morlen ihre Träume heimsuchen konnte, konnte er dasselbe mit Devin machen. In der vergangenen Nacht hatte Devin geschlafen, ohne von ihrer Flucht etwas zu wissen. Sollte Morlen ihn in seinen Träumen besucht haben, würde er nichts über sie erfahren haben. Doch heute? Heute Nacht? Und in allen folgenden Nächten?
Während sie die zweihundert Schritte durch dichtes Unterholz gingen, schaute sich Maeve nach Erkennungszeichen um. Lila hatte sie auf eine junge Eiche hingewiesen, doch wie groß war ein junger Baum? Lila hatte diesen Ort zuletzt gesehen, als sie gerade schwanger geworden war, also vor achtzehn Jahren. Wie groß war eine junge Eiche nach achtzehn Jahren? Für Maeve war das Gelände ein Wirrwarr aus Ranken, Büschen, hohen Bäumen und zähen Schösslingen. Sie ging zum Luchsfelsen zurück, um sich neu zu orientieren. Dann schlug sie noch einmal genau die Richtung ein, die ihr der Kutscher gewiesen hatte. Sie zählte ihre Schritte und stellte sich dabei die Schritte ihrer Mutter vor. Fast sah sie die junge Frau vor sich, die Lila einst gewesen war, eine Frau mit unversehrtem Gesicht, die sich aus dem Haus ihres Vaters stahl, um den Schatz ihres Liebsten zu vergraben. Maeve musste Cabis' letztes Geschenk an ihre Mutter finden, das Vermächtnis der Traumwen. Jetzt ist es mein Vermächtnis.
Vor ihr stand ein Baum von beachtlicher Größe. Er war dicht belaubt und seine Blätter hatten dieselbe Form wie die Blätter des Schösslings in ihrer Hand. Unter dem Baum wucherten Dutzende von Sträuchern und Kräutern.
„Bitte such einen Stock, Devin. Zum Graben."
Zweige zerkratzten ihre Arme, als sie im Gestrüpp nach dem Stein mit den roten Adern stocherte. Da lag er, von Laub verdeckt. Sie schob Blätter und Gras zur Seite und legte einen kleinen Findling frei. Sie kniete sich nieder und betrachtete die roten Adern, die seine Oberfläche durchzogen.
Devin brachte einen knorrigen, spitz zulaufenden Ast. Gemeinsam gruben und kratzten sie, bis sie den tief im Erdboden eingebetteten Stein endlich zur Seite wälzen konnten. Dann stocherte Maeve mit dem Ast in der dunklen Erde.
Fasern von grünem Satin! Sie legte ihre Hände um einen harten Gegenstand, der in ein paar Fetzen gewickelt war, und zog ihn mitsamt Erde und Wurzeln heraus. Nachdem sie die verbliebenen Stofffetzen abgerieben hatte, schmiegte sich ein glatter, brauner, natürlich gerundeter Stein in ihre Hand. Er sah ganz gewöhnlich aus, fühlte sich aber nicht gewöhnlich an. Maeve spürte eine Welle von Wärme, die von dem Stein ausging und durch ihren Arm bis zur Brust strömte. Eine strahlende Melodie erfüllte ihr Herz, ein nie zuvor gehörtes Lied und doch vertraut.
Als Devin sie fragte, ob sie froh sei, merkte sie, dass sie lächelte.
„Ich bin glücklich, weil meine Mutter mir diesen Stein zugedacht hat, und nun habe ich ihn gefunden. Es ist ein Zauberstein, der uns schützen wird." Sie hoffte, es
war wahr, was sie sagte. Sie musste herausfinden, wie sie auch Devins Träume schützen konnte. Sie hielt ihm den Stein hin. Er berührte ihn mit einem Finger. „Halt ihn fest", drängte sie. Er nahm ihn. „Fühlst du, wie er singt?", fragte sie.
„Nein." Verwirrt sah er sie an. „Hörst du ihn denn singen?"
Sie fuhr ihm durch seine dunklen Haare. Ja." Er gab ihn ihr zurück. Maeve riss einen Streifen Stoff von dem zerlumpten Hemd, das sie unter ihrem blauen Seidenkleid trug, und band sich den Traumwenstein um den Hals.
Jasper wickelte den goldenen Delan in ein Stück Stoff und stopfte ihn vorn in seinen linken Schuh. Er trug immer zu große Schuhe, um darin Dinge zu transportieren, die andere nicht sehen sollten. Auf dem Rückweg nach Slivona nahm er einen Fahrgast auf. Im Gefühl seines neuen Wohlstands wollte er den Mann, dessen Kleidung zerschlissen war, umsonst mitfahren lassen, besann sich aber eines Besseren. In all den Jahren auf der Straße hatte er gelernt, dass alles, was vom Alltäglichen abwich, unerwünschte
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