Die Voegel der Finsternis
ihre Hand. Kalte, graue Schatten überzogen ihren Körper, und sie war sich plötzlich sicher, dass Lord Morlen einen Weg zu Orlo gefunden hatte. Lord Morlen. Der Traumwenstein auf ihrer Brust vibrierte. Der Stein! Wenn Lord Morlen sie gefangen nahm, durfte er den Traumwenstein nicht finden. Lila hatte Schlimmeres durchgemacht, um das Geheimnis des Steins zu bewahren.
„Lass uns weitergehen", sagte Maeve, „ich will auf keinen Fall dein Schiff verpassen." Sie stand auf. In den wenigen Augenblicken, die Orlo brauchte, um auf die Füße zu kommen, löste sie den Traumwenstein von ihrem Hals, und als er sich zum Gehen wandte, ließ sie den Stein ins Meer fallen. Er versank mit einem leisen, goldenen Kräuseln. Der Verlust stach ihr ins Herz. Sie rannte auf die belebte Straße zu. Vielleicht konnte sie in der Menschenmenge untertauchen und Orlo, Anson und Lord Morlen entkommen. Die Planken des
Piers dröhnten unter ihren Füßen. Sie musste nach allen Seiten hin ausweichen, Ellbogen bohrten sich ihr in die Seite, ihr Atem ging in kurzen Stößen. Bitte, mach, dass die Dockarbeiter mich verdecken. Bitte, lass Jasper und Devin entkommen. Ohne mich haben sie vielleicht eine Chance.
Sie rempelte gegen einen dicken, kahlköpfigen Mann, der sie mit solch einer Gewalt am Arm packte, dass sie mit einem schmerzhaften Ruck zum Stehen kam. „Bitte, Herr. Bitte lasst mich gehen." Sie wand sich in seinem Griff.
Er sah hinter sie, die Art, wie er lächelte, machte ihr Angst. „Nein, nein. Dich lass ich nicht gehen." Sie drehte sich um und sah Orlo näher kommen. „Ist das die Ware?", fragte der Kahlköpfige. „Ja, Warren. Das ist Maeve." Orlos Gesicht war ihr fremd. Sein breites Lächeln war ausdruckslos.
21
Maeve wehrte sich, so gut sie konnte, doch vergeblich. Der Kahle zerrte sie über das Pier, Orlo trottete auf seinem Pferd nebenher. Sie versuchte, die Aufmerksamkeit der Dockarbeiter auf sich zu lenken, doch diese arbeiteten stumpf vor sich hin. Der Kahle schleppte sie zu einem Holzhaus auf einem anderen Pier. Drinnen stieß er sie grob gegen die Wand. Weinend sank sie zu Boden. Sie weinte um ihre verlorene Freiheit und sie weinte um Devin und Jasper, ihre Freunde. Sie weinte um ihre Mutter, deren Ausdauer und Mühe ein so unglückliches Ende gefunden hatten. Und sie weinte um den Traumwenstein, nach dessen Melodie sie sich sehnte. „Sei still!", schrie der Mann. Er ging durch den Raum und zündete Lampen an.
Orlo kam herein. Er sah verwirrt aus. „Nicht weinen, Maeve", flehte er.
Am liebsten hätte sie sofort aufgehört, diese Männer sollten sie nicht weinen sehen. Aber aus ihrer Kehle stießen tiefe Schluchzer auf, die sie genauso wenig stoppen konnte wie die Wellen, die an das Ufer schlugen.
„Es ist Zeit für mein Vahss", sagte Orlo. Er schwitzte. „Meine Brust schmerzt."
Der Kahlköpfige knurrte: „Erst erzählst du mir, wie du sie gefunden hast."
„Ich habe sie zufällig entdeckt, in der Nähe des Hafens, wie Ihr vermutet habt."
Der Kahle hockte sich neben Maeve und nahm ihre verbundene Hand. „Aha, über die Mauer geklettert." Er drehte sich zu Orlo um. „Und was ist mit dem Jungen?"
Orlo schwitzte noch mehr, obwohl es in dem Raum nicht sehr warm war. „Wo ist mein Vahss, Warren? Ich brauche mein Vahss." „Antworte. Hast du den Jungen gesehen?" Orlos Lippen bewegten sich stumm. Im Licht der Lampen sah sein Gesicht geschwollen aus, blaue und rote Flecken überzogen seine Wangen, nur die Narben traten blass hervor. Schweiß strömte über sein Gesicht. „Hast du den Jungen gesehen?", wiederholte Warren. Diesmal schrie er.
Orlo blickte von Warren zu Maeve. „Maeve", sagte er, „oh, Maeve, du solltest nicht hier sein. Du musst fortlaufen."
Warren stand zwischen ihr und der Tür. „Renn, Maeve", drängte Orlo. „Ich kann ihn festhalten." Er stürzte sich auf Warren. Maeve sprang auf und wollte um die beiden herum. Sie hörte ein schreckliches Knirschen, drehte sich um und sah Orlo auf dem
Boden liegen, die Hände auf der Brust Sie rannte zur Tür und drehte mit bebenden Fingern den Knauf. Da wurde sie von hinten gepackt und quer durch den Raum geschleudert. Als ihr Kopf gegen die Wand prallte, wurde es dunkel um sie.
Maeve stand auf einem einsamen Strand. Die Farben von Sand und Meer waren vom Licht des Vollmonds gedämpft und wirkten traurig und fahl. Ihr Kopf tat weh. Sie suchte etwas. Was war es? Sie drehte sich langsam um und musterte die einsame Gegend. Der Wind kräuselte den
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