Die Voegel der Finsternis
wenig. Es war eine Bewegung, die nicht vom Wind herrührte. Er wartete und fürchtete, sie könnte sich lediglich als ein Staubwölkchen erweisen. Doch sie kam weiter auf ihn zu, und er sah schließlich, dass es eine Frau in fließenden, seidenblauen Tüchern war. Ihr langes weißes Haar flatterte im Wind wie ihr Gewand. Sie kam näher. Als sie vor ihm stand, betrachtete er mit brennenden Augen ihr Gesicht Ihre bronzene Haut war von vielen Falten zerfurcht, ihre blauen Augen Spiegelbild seiner eigenen Augen. „Großmutter." Er neigte seinen schmerzenden Kopf und berührte den Saum ihres Kleides. „Wie kommst du hierher in die Wüste?"
„Die Gebete derer, die dich lieben, haben mich hierher gebracht." Sie reichte ihm ihre Hand. „Du musst mit mir kommen."
Er nahm ihre Hand, sie fühlte sich glatt und kühl an. „Gerne würde ich mit dir kommen", sagte er, „aber ich kann nicht aufstehen."
„Du musst. Du darfst hier nicht länger bleiben."
Sein Mund fühlte sich trocken wie Staub an. „Hast du Wasser?"
„Dort, wo wir hingehen, gibt es Wasser. Hier ist kein Wasser mehr. Du hast die letzten lebenden Tropfen aufgebraucht." Sanft zog sie ihn am Arm. Schmerzen schlugen wie Flammen über seinen Körper, als er mühsam aufstand.
„Aufgebraucht . . . aber ich bin hier noch nie gewesen."
„Du hast dein ganzes Leben hier verbracht. Nun musst
du fort, denn es ist nichts mehr übrig."
Feuer versengte seine Lungen. „Ich verstehe nicht.
Wohin gehen wir? Ist Sara dort? Und Maeve?"
„Der Ort, zu dem wir gehen, liegt hinter diesem Hügel."
Sie zeigte in die Richtung.
Dorjan konnte an nichts anderes denken, als wie er den nächsten Atemzug überstehen sollte, und an die kühle Hand, die ihn führte. Von stechenden Flammen gepeinigt, atmete er ein, dann atmete er aus und machte den nächsten Schritt. Schließlich erreichten sie den Hügel, von wo Marina gekommen war. Sie gingen weiter, bis die Steigung begann. Er hatte sich eine Steigerung seiner Qualen nicht vorstellen können, aber nun schlugen die Schmerzen wie ein Inferno über ihm zusammen. Vor ihnen führte eine in Stein gehauene, kurze Treppe bergauf. Jede Stufe eine Quai kroch Dorjan hinauf, und als er schließlich die oberste Stufe erreicht hatte, war die Landschaft jäh verwandelt. Vor ihm lag ein mit glänzenden Steinen gefasstes Becken, in dem glasklares Wasser glitzerte. Um das Becken wucherte üppiges Grün und ausladende Blumen, dahinter standen stattliche Bäume, die den Vordergrund zu einer majestätischen Bergkette bildeten.
Marina winkte ihn zum Becken. „Trink", sagte sie, „bade."
Er ließ sich kopfüber ins Wasser gleiten, trank in mächtigen Zügen, tauchte unter und saugte sich voll. Als er wieder herausgestiegen war, setzte er sich still zwischen die Blumen. Seine Großmutter betrachtete ihn. Sie kam ihm älter vor, die Falten ihres Gesichts schienen, seit sie ihm erschienen war, tiefer, ihre Gestalt gebückter geworden zu sein. Dorjan sah zum Wasserbecken und stellte überrascht fest, dass es beinahe leer war.
„Wo ist das Wasser hin?", fragte er.
„Du hast es gebraucht", sagte sie sanft
„Aber - so viel habe ich nicht getrunken." Die Bäume,
eben noch grün und kräftig, waren kahl. Die Blumen
ließen ihre Köpfe hängen. „Wo sind wir?"
„In meinem Leben. Deines war aufgezehrt."
„Aber warum trocknet dieser Ort aus?"
Sie wandte sich vom Wasserbecken ab, ohne seine Frage
zu beantworten. „Wir können hier nicht länger bleiben,
keiner von uns beiden. Komm."
Sie ging langsam weiter, Dorjan folgte ihr. Neben einer
Gruppe von Bäumen, an denen noch grüne Blätter hingen, blieb sie stehen. Sie drehte sich um und schaute zurück. Dann faltete sie ihre Hände und verneigte sich ehrfürchtig. „Danke für mein Leben", sprach sie in das ausgetrocknete Land hinein und verharrte in ihrer Verbeugung.
Sie schien sich zu verabschieden. Was hatte das zu bedeuten? Sie zeigte auf die Bäume und sagte: „Wir müssen jetzt weiter." Dorjan zögerte. „Weiter? Wohin?" Sie lächelte leise. „Komm. Du kannst hier nicht bleiben." Sie trat unter die Bäume und verschwand. Unter ihm begann der Boden aufzubrechen. Tote Pflanzen flogen an ihm vorüber und Staubwolken stoben pfeifend um seinen Kopf. Dorjan folgte Marina unter die Bäume.
„Sein Atem wird kräftiger", sagte Maeve.
Saras bedrücktes Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Bald
wird er aufwachen", sagte sie.
Um sich die Zeit zu vertreiben und sich ein wenig
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