Die Vogelfrau - Roman
immer besser, sich in die Gedanken von Tätern und in die Beziehungsnetze von Opfern hineinzufühlen. Er liebte das Zusammenfügen von Indizien, das Hin- und Herschieben von nur vermeintlich sicheren Beweisen, so lange und mit großer Geduld, bis sich alles zu einem lückenlosen Bild fügte.
Die Aufklärungsquote bei Mord lag bei über 90%. Das sollte eigentlich ausreichen, um mit der Arbeit zufrieden zu sein. Der Kommissar war ein Meister im Verdrängen.
Das schützte ihn vor den restlichen Prozentpunkten, die nie aufgeklärt wurden.
Das ließ ihn durchhalten.
Seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf Täter, auf Opfer und Kollegen. Ansonsten pflegte er kaum Beziehungen. Die anderen wussten nicht, wie klein der Schritt war, der sie auf die andere Seite führte. Sie meinten, anders zu sprechen. Sie meinten, anders zu denken. Das alles war jedoch eine Täuschung. Manchmal konnte Bloch sehen, wer von ihnen ein Opfer war. Früher oder später würde es so kommen – auch wenn sie sich heute noch sicher wähnten. Solche Erkenntnisse machten ihn noch zurückhaltender. Er sei ein Meister des Zuhörens, sagten seine Kollegen.
Alles nur Erfahrung, sagte er. Über 30 Jahre. Und dann dachte er nicht mehr an Altersteilzeit.
Der Tote lag inzwischen flach ausgebreitet auf dem Rücken, die Arme wie in hilfloser Geste weit ausholend, obwohl es nichts festzuhalten gab. Sein blau angelaufenes, aufgedunsenes Gesicht war nach oben gekehrt. Viel war nicht mehr übrig von den markanten, scharf geschnittenen Gesichtszügen des Professors. Der Kommissar erinnerte sich, sein Foto in letzter Zeit öfters im ›Südkurier‹ gesehen zu haben. Jetzt war auch dieses Gesicht zur anonymen, stumpfäugigen Totenmaske geworden. Massenware. Tote sahen sich nach kurzer Zeit alle erschreckend ähnlich.
Der Gerichtsmediziner richtete sich auf und schaute sich suchend im Raum um. Sein Blick kreuzte den von Bloch.
Dann rapportierte er routiniert und präzise: »Nicht mehr wegdrückbare Totenflecken. Körpertemperatur an die Umgebungstemperatur angeglichen. Ich schätze mal, dass der Tod schon am Samstagnachmittag oder am frühen Abend eingetreten ist.«
»Können Sie auch schon etwas zur Todesursache sagen?«
»Stumpfe Gewalt gegen den Schädel – wir müssen ihn noch genauer untersuchen, aber es scheint mir in diesem Fall doch ziemlich sicher.« Der Mediziner spreizte mit einer langbeinigen Pinzette die blutverkrustete Kopfschwarte, die sich leise knisternd dehnte. Darunter wurde die zertrümmerte Schädelkalotte sichtbar.
Auch ein zertrümmerter Schädel war nichts Neues. Routine.
Flüchtig dachte der Kommissar darüber nach, wie sich des Professors Schädel in einer Glasvitrine des eigenen Museums machen würde. Der würde sicher fantastisch zu den Asservaten der Totenkammer im Erdgeschoss passen. Er verbot sich jedoch umgehend solche Gedanken als unpassend und zynisch. Konnte sich ihrer dann doch nicht mehr erwehren, als der Kollege von der Spurensicherung einen länglichen Gegenstand in die Höhe hielt. »Zumindest ist der Professor standesgemäß gestorben«, sagte er mit offenem Grinsen. Originelle Details kamen bei den Mitarbeitern immer gut an. Diesmal war es die Tatwaffe, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Offensichtlich eine Feuersteinaxt.
»Steinzeit?«
»Keine Ahnung, Chef. Ich kenne mich in Geschichte nicht besonders gut aus. Aber die Axt ist sicher schwer genug, um einem Menschen den Schädel zu spalten.«
»Wo haben Sie sie gefunden, Meyer?«
»Direkt neben seinem Stuhl. Rechts. Hat die Nummer zwei.«
Alle Gegenstände im Raum wurden fotografiert und digital erfasst, sodass später, mit einer speziellen Software, eine dreidimensionale Rekonstruktion des Tatortes möglich sein würde. Der Fundort der Tatwaffe gab erste Hinweise auf den Tathergang. Auch hier nichts Besonderes. Wahrscheinlich war der Täter von hinten an den Professor herangetreten und hatte ihm mit der Axt den Schädel zertrümmert, die Tatwaffe dann fallengelassen und war geflüchtet. Es blieb abzuklären, ob die Axt aus den Beständen des Museums stammte. Fingerabdrücke mussten genommen werden. Routine.
»Die Nummer drei ist aber auch interessant, Chef.« Meyer zauberte eine zweite Plastiktüte hervor. Darin schimmerte ein rundlicher Metallgegenstand, besetzt mit Türkisen.
»Eine Brosche?«
»Eher eine Art Amulett. Sieht indianisch aus. Ist aber ziemlich sicher nichts Antikes. Mein Bruder hat mal so was von einer USA-Reise als Andenken
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