Die Vogelfrau - Roman
hechztete und das Ansehen hatte, als ob sie in einem Actu venereo begriffen wäre; darbey ihr auch der Halsß aufgetrieben wurde, wie es denen, die an Spasmo hysterico leiden, zu begegnen pflegte. Ehe nun der Terminus Mensium wieder herbey kam, riet ich, öfters warme Fuß-Bade zu gebrauchen und einen Aderlasse am Fuß geschehen zu lassen. Nach einem halben Jahre verfiel sie jedoch trotz ununterbrochener Behandlung in eine schwere Schwindsucht, darob sie wenig später ad exitum kam.«
Er legte das Blatt auf das Tischchen, setzte die gespreizten Fingerspitzen sorgfältig aufeinander und schaute Bloch über den Rand seiner Brille an. »Und?«
»Genau das wollte ich Sie eigentlich fragen, Herr Professor. Sehen Sie einen Zusammenhang mit der Arbeit Ihres Kollegen? Sie müssen verzeihen, diese Sprache – ausgesprochen altertümlich, finden Sie nicht auch?« Er fühlte sich wie ein Idiot. Er konnte schlecht zugeben, dass er kaum ein Wort verstand. »Sieht ganz so aus, als bräuchten wir hier die fachkundige Unterstützung eines Historikers.«
Gräber ließ sich nicht zweimal bitten. »Es dürfte sich hier um eine Textkopie handeln – Gott sei Dank nur eine Kopie. Nicht auszudenken, wenn das Blut ein Original besudelt hätte.«
Er sagte tatsächlich besudelt, ein Wort, das dem Kommissar genauso altertümlich erschien wie der eben gelesene Text.
»Eine Krankheitsbeschreibung, offensichtlich eine Kasuistik aus einem ärztlichen Fachbuch – der Sprache nach etwa Ende des 17. Jahrhunderts. Interessant ist der ziemlich moderne Denkansatz mit Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Hier, hören Sie, ich übersetze es in leicht geraffter Form: Ein Mädchen von 19 Jahren, bei der die Menstruationsblutung nicht zur Genüge floss, sich auch um 14 Tage verspätete, bekam den dritten Anfall eines Brustkrampfes, dass sie ächzen musste und so aussah, als habe sie Geschlechtsverkehr.
Hier haben wir also die Beschreibung der Symptomatik – dem folgt dann treffenderweise sofort die Diagnose. Der Autor schließt aus dem Vorangegangenen, dass es sich hier um einen hysterischen Krampf handle. Interessant ist, wie von dieser modernen Sichtweise der direkte Brückenschlag in die Antike erfolgt. Hysteria wird auch mit ›wandernde Gebärmutter‹ übersetzt. Als Ursache wurde ein Ungleichgewicht der Körpersäfte angenommen, beziehungsweise deren Stauung. In diesem Fall wurde eine Säftestauung in den Genitalorganen angenommen und deshalb logischerweise ein Aderlass am Fuß empfohlen – dort befanden sich nach damaliger Vorstellung die ableitenden Blutgefäße für die Unterleibsorgane.« Gräber holte Luft. »In diesem Text prallen das mechanistische, rationale Weltbild eines Descartes und das ganzheitliche Menschenbild eines Aristoteles aufeinander.«
Er geriet ganz eindeutig wieder ins Dozieren. Es wurde Zeit, ihn zu unterbrechen. »Ja, wenn es denn geholfen hätte«, brummte der Kommissar.
Gräber wurde noch eifriger. »Hat es aber nicht. Hier lesen Sie: ›... verfiel in Schwindsucht und starb wenig später‹. Da haben sie wohl mit den Aderlässen zu viel des Guten getan. Wahrscheinlich steckt etwas ganz anderes dahinter.«
»Und?« Der Kommissar galt allgemein als geduldiger Zuhörer.
»Meiner bescheidenen Meinung nach handelt es sich hier um die Beschreibung einer Pubertätskrise.«
»Wie bitte?«
»Haben Sie Kinder, Herr Bloch? Vielleicht sogar eine halbwüchsige Tochter? Verzeihen Sie meine Indiskretion, aber als Vater, sozusagen als direkt Betroffener oder soll ich sagen als Profi, versteht man es vielleicht besser.«
Seine Tochter war nicht halbwüchsig. Die sollte endlich erwachsen werden. Aber das gehörte nicht hierher.
»Machen Sie weiter, Herr Gräber!« Der Kommissar wunderte sich selbst über seinen schroffen Tonfall.
»Damals kamen die Mädchen wesentlich später in die Pubertät. 17 bis 19 Jahre, das war bei der damaligen schlechten Ernährung keine Seltenheit. Und dass die Menstruationsblutung anfangs nur unregelmäßig kommt, das ist auch nichts Krankhaftes. – Offensichtlich erwachte bei dieser jungen Dame aber gleichzeitig eine gewisse Lust an der Liebe. Oder soll ich sagen, die Liebe zur Lust?« Er schaute auf und erwartete zumindest ein Lächeln bei Bloch. Da dessen Gesicht unbewegt blieb, nahm er den Faden seiner Vorlesung wieder auf: »Die Eltern machten Druck, die Tochter verfiel in Krämpfe – und der Arzt empfahl das, was damals als Allheilmittel galt, den Aderlass. Der Rest ist bekannt.
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