Die Voliere (German Edition)
bedeutete ihr mit einem Kopfschütteln, sich hinter ihm zu halten, aber sie stand bereits mit einem Bein im Flur.
Es sah aus, als seien die Bewohner gerade erst eingezogen: Zusammengefaltete Umzugskartons stapelten sich an den kahlen Wänden, die Deckenlampe war nur provisorisch angeklemmt und in der Luft lag der Geruch von frischer Farbe.
»Werner? Susanne?«
Keine Antwort. Nora setzte ihren Weg fort. Badezimmer, Gästetoilette – leer. Die Küche – ebenfalls niemand. Aus einem der hinteren Zimmer drang ein leises Wimmern. Lautlos schlich sie in Richtung Wohnzimmer.
Susanne Hartmann saß im Pyjama auf der Couch. Sie war geknebelt und mit Wäscheleine an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Von ihr stammten die gequälten Geräusche.
Werner Hartmann, Noras ehemaliger Chef, saß in einem gelben Morgenmantel auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers, etwa zwei Meter von der Staffelei entfernt, an der Lefeber arbeitete. Dieser hatte seinem ›Modell‹ eine durchsichtige Plastiktüte über den Kopf gezogen und mit Klebeband um den Hals zugeschnürt. Hartmanns Lippen waren blau, er atmete schnell und flach und in seinen Augen las sie nackte Angst. Todesangst.
Nora rannte zum Stuhl. Lefeber deutete mit der Waffe, die er in der linken Hand hielt, während er mit der Rechten den Pinsel führte, auf den Stuhl. »Sobald Sie ihn auch nur mit dem kleinen Finger berühren, erschieße ich ihn.«
»Er ist sowieso gleich tot, wenn ich ihm die Tüte nicht abnehme.«
»Mitnichten. Er hat mindestens noch zehn Minuten, bevor die Hirnschädigungen einsetzen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Nora zögerte. Sie sah zu Gideon hinüber, der in der Tür stand, die Dienstwaffe auf Lefeber gerichtet, und ihn aufforderte, aufzugeben. Lefeber lachte nur.
»Was wollen Sie?«, fragte Nora.
»Malen. Sie können mich dabei ein wenig unterhalten und wenn ich fertig bin, darf ihr attraktiver Kollege mich erschießen.«
»Er wird Sie nicht erschießen. Sie gehen ins Gefängnis zurück. Und dieses Mal wird man Sie ganz sicher nicht mehr freilassen.«
»Höre ich da Reue? Selbstkritik? Wer hat sich denn für meine Resozialisierung eingesetzt?«
Lefeber tauchte den Pinsel in ein sattes Gelb und platzierte es mit gespitzten Lippen auf der Leinwand. Als er zufrieden war, warf er Nora einen unergründlichen Blick zu und lächelte.
»Na, hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«
»War das immer nur ein Spiel für Sie, Lefeber? Die Therapien? Die Gespräche mit Gutachtern? Haben Sie Ihren guten Willen immer nur vorgetäuscht? Um Ihren alten Neigungen zu frönen, sobald Sie sich wieder auf freiem Fuß befinden?«
»Sie schätzen mich schon wieder falsch ein. Außerdem wissen Sie so gut wie ich, dass man seine Umgebung nicht über Jahre hinweg in einem solchen Ausmaß täuschen kann. Ich erzähle Ihnen jetzt mal was über Gutachter, das Sie noch nicht wissen, wenn Sie erlauben.«
Lefeber legte den Pinsel auf die Palette und nahm die Pistole in die rechte Hand; Nora fragte sich einmal mehr, woher sie stammen mochte, denn es war nicht Martinez’ Dienstwaffe.
»Von all den Gutachtern, die ›prägend‹ für meine Gefängniskarriere waren, haben nur zwei mit mir persönlich gesprochen. Sie und ein gewisser Herr Schröder, der das Erstgutachten verfasst hat. Die anderen Gutachten wurden auf der Grundlage von Akten und Gesprächen mit dem Gefängnispersonal geführt.«
»Das bedeutet nicht, dass die Gutachten falsch waren, auch wenn ich Ihrer Meinung bin, dass man Sie hätte anhören müssen.«
»Es geht überhaupt nicht darum, ob die Gutachten falsch oder richtig waren!«, donnerte Lefeber. »Sondern darum, dass es da schon anfängt mit der Entmenschlichung. Sobald man durch die Gittertüren marschiert, ist man nur noch ein Objekt, ein Monster, eine Projektionsfläche. Kein Mensch mehr aus Fleisch und Blut, dem man eine eigene Stimme zugesteht. Und weil das schon im Gefängnis beginnt, ist es auch nicht verwunderlich, dass es in Freiheit nach dem gleichen Muster weitergeht.«
»Wundert Sie die Reaktion, bei den Verbrechen, die Sie begangen haben?«
Hartmann gab ein Röcheln von sich.
»Bitte lassen Sie mich ihm die Tüte abnehmen!«, flehte Nora.
»Er sitzt ohnehin nicht still. Das Bild ist grauenhaft geworden.« In einem unerwarteten Zornausbruch fegte Lefeber mit einem einzigen Handstreich die Staffelei, das darauf befindliche Porträt, die Farbtuben und die Palette um. Das Bild landete auf der bemalten Seite, Wohnzimmermöbel
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