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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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und Fußboden waren mit leuchtenden Farbklecksen verschmiert.
    Nora wagte es und riss mit fahrigen Händen das Klebeband auf, es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie Hartmanns Gesicht, das vom Kondenswasser glänzte, aus der Plastiktüte befreien konnte. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Als sie auch die Fesseln lösen wollte, gebot Lefeber ihr Einhalt.
    »Wissen Sie, Frau Winter, dass der Staat sich mehr oder weniger ernsthaft bemüht, uns einen Wiedereinstieg in die Gesellschaft zu ermöglichen, mag ja schön und gut sein. Aber wenn die Gesellschaft nicht mitspielt? Außer uns und vielleicht noch Ihnen und diesem unverbesserlichen Optimisten Neumann hat keiner ein Interesse daran, dass wir frei herumlaufen. Selbst dann, wenn wir unsere Strafe abgesessen haben und uns an alle Auflagen halten. Sogar die Leute, die uns von Amts wegen helfen müssten, lassen uns im Stich. Vergeben und verzeihen sind heute leider nicht mehr gefragt.«
    »Ich denke, es gibt viel mehr intelligente Menschen, die Ihnen eine Chance geben wollen, als solche, die Sie verdammen. Die Dummen schreien nur lauter.«
    Lefeber sann einen Moment nach. »Und um Ihre Frage zu beantworten: Das war kein Spiel. Ich wollte wirklich zurück in den Schoß der Gemeinschaft, wie man so schön sagt. Aber die Gemeinschaft hat einen Riegel vorgeschoben. Eine Art Keuschheitsgürtel, wenn man so will. Kennen Sie Andorra von Max Frisch?«
    »Wenn ich mich recht erinnere, war das Schullektüre«, antwortete Nora, überrumpelt von dem abrupten Themenwechsel.
    »Eines meiner Lieblingsbücher. Die Leute in Andorra reden der Hauptfigur Matti so lange ein, dass er ein Jude ist, bis er es selber glaubt, bis er sich in die Rolle hineinfindet und genauso handelt, wie sie es von einem Juden erwarten. Obwohl er keiner ist. Dann lynchen sie ihn. Als der Mob gestern die Mühle gestürmt hat, wie hirnlose Zombies Hassparolen brüllend, wurde mir eines klar: Man ist nie nur das, wofür man selbst sich hält. Man ist auch das, wofür einen die anderen halten. Wenn die anderen einen Dämon in mir sehen, dann bin ich wahrscheinlich auch einer. Und warum soll ich mir da noch Zurückhaltung auferlegen?«
    Nora stand ratlos da. Was sollte sie Lefeber darauf auch antworten?
    »Wussten Sie übrigens, dass bei den alten Griechen Dämonen nicht unbedingt bösartig waren? Sie waren Zwischenwesen, eine Mischung aus Göttern und Menschen.«
    »Meine Kenntnisse der griechischen Mythologie sind ein wenig eingerostet.«
    »Sehen Sie? Und jetzt werde ich Ihr ganz persönlicher Dämon sein und mein Versprechen einhalten.« Mit einer blitzschnellen Bewegung stand er eine Armlänge neben Nora und hielt ihr die Pistole an die Schläfe. Er wandte sich an Gideon Richter.
    »Erschießen Sie mich. Ansonsten erschieße ich sie. Zehn … neun … acht …«
    Richters Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
    »Nicht, Gideon. Er wird das nicht tun. Er will dich nur provozieren.«
    »Sieben … sechs … fünf …«
    Bei drei krachte es ohrenbetäubend. Lefeber wurde durch die Wucht des Aufpralls nach hinten geschleudert. Er stolperte rückwärts durch die offene Balkontür, der Griff nach der niedrigen Brüstung des französischen Balkons ging ins Leere. Im nächsten Augenblick kippte sein Körper hintenüber. Nora sah seine Füße grotesk in den Himmel ragen, dann verschwand sein Körper aus ihrem Blickfeld.
    Sie rannte auf den Balkon und blickte hinunter. Vier Stockwerke tiefer lag Lefebers lebloser Körper auf dem Gehsteig der Schwarzburgstraße. Unter ihm breitete sich eine rote Lache aus. Polizisten in Uniform und Sanitäter eilten von allen Seiten auf ihn zu. Nora kehrte ins Zimmer zurück, wo Gideon Susanne Hartmann losband und seinen ehemaligen Chef von seinen Fesseln befreite. Sie betteten ihn auf den Boden. Sanitäter stapften durch die Wohnzimmertür und übernahmen die Versorgung der beiden Geiseln. Mit einem Taschentuch hob Nora Lefebers Pistole vom Boden auf und nahm sie in Augenschein.
    Es war die täuschend echte Replik einer Heckler & Koch P30 II, aus schwarzer und grauer im Backofen gehärteter Knete modelliert. In die Unterseite des Griffs, wo sich bei einer echten Waffe das Magazin befand, hatte der Künstler seine Signatur eingeritzt.
    W. Tibursky.
    Montag, 2. Dezember
    Vor neun Wochen hatte Schreyer von Nora wissen wollen, was sie von der Resozialisierung hielt. Damals hatte sie ausweichend geantwortet. Hatte wissenschaftliche Floskeln bemüht, um ihr Halbwissen zu

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