Die Wächter von Jerusalem
Fieberwahn, und auch ich fühle mich von Stunde zu Stunde schwächer. Ich hatte gehofft, dass wenigstens einer von uns es mit den Neuigkeiten noch bis Glastonbury schafft. Doch es scheint, dass es uns nicht mehr vergönnt sein wird, Euch die Nachrichten persönlich zu überbringen . Deshalb schicke ich Euch dieses Buch – und verstecke darin den Brief, in der Hoffnung, dass er nicht in falsche Hände geraten möge. Denn dieser Brief nennt Euch den Ort, an dem eine weitere Seite des Fluch des Merlin verborgen ist. Wir fanden sie durch eine glückliche Fügung, als wir in der Heiligen Stadt zusammengetrieben und eingekesselt von den Moslems tagelang in der Kirche ausharren mussten. Es besteht kein Zweifel an der Echtheit des Schriftstücks, denn das Pergament trägt das Zeichen des Falken, ebenso wie das Pergament, das bei uns im Kloster aufbewahrt wird. Und – o Bruder im Herrn, wir konnten es kaum glauben! – es scheint sogar mit der uns bekannten Schrift zu tun zu haben. Da unser Schicksal ungewiss war, legten wir das Pergament an Ort und Stelle in sein Versteck zurück. Auch als uns ein Mönch einen Geheimgang aus der Heiligen Stadt zeigte, ließen wir es dort, aus Angst, es könne auf unserer langen und gefahrvollen Reise verloren gehen oder gar in die falschen Hände geraten. Nun sind wir erneut gestrandet in einem Land, das uns fremd ist, und sehen wenig Hoffnung, die Heimat noch lebend zu erreichen. Doch ich habe Euch die Lage des Verstecks, in dem wir das Pergament gefunden haben, aufgezeichnet, so wie sie mir im Gedächtnis blieb, damit Ihr Euch, sobald die Moslems aus der Heiligen Stadt vertrieben sind, selbst auf die Reise begeben und die wertvolle Schrift in Besitz nehmen könnt.
So lebt denn wohl, Bruder. Der Friede des Herrn sei mit
Euch in der fernen Heimat. Betet für unsere Seelen,
Euer Bruder im Herrn
Pater Joseph de SaintClair‹«
Cosimo legte das Pergament behutsam auf den Schreibtisch zurück.
»Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass um das Jahr 1190 etliche versprengte Gruppen von Kreuzfahrern, denen mit Müh und Not die Flucht aus dem von Saladin eroberten Jerusalem gelungen war, durch Österreich, die Schweiz und Frankreich streiften. Zu einer davon muss auch dieser Pater Joseph gehört haben.« Er schüttelte den Kopf. »Es muss entsetzlich gewesen sein. Dem Schrecken des Krieges und der drohenden Gefangenschaft gerade eben entronnen , liefen diese bedauernswerten Kerle auf ihrem Heimweg der Pest geradewegs in die Arme. Geschwächt, wie sie waren, konnten sie der Seuche vermutlich nicht lange standhalten . Sie starben eines elenden Todes, meist namenlos, fern der Heimat, ohne Angehörige und Freunde, die sich um eine ordnungsgemäße Bestattung gesorgt hätten. Wahrscheinlich wurden sie wie die meisten Pestopfer verbrannt und ihre Asche in einem dieser Massengräber verscharrt, von denen es überall in der Welt reichlich gibt.« Er strich mit der Hand über das Pergament, als wollte er es streicheln. »Wir wissen nicht einmal, wo sie sich gerade aufhielten, als Pater Joseph diesen Brief geschrieben hat. Waren sie in der Nähe von Wien? Oder hatten sie bereits französischen Boden betreten? Niemand wird es uns je sagen können. Nicht einmal der Brief hat seinen Bestimmungsort erreicht. Vielleicht war auch dafür die Pest verantwortlich. Die Seuche hat in einigen Jahren so stark gewütet, dass ganze Landstriche verwaisten. Vielleicht wurde auch die Postkutsche geplündert, oder der Bote war nicht zuverlässig und hat das Buch gegen ein paar Münzen verkauft. Wer weiß das schon.«
Anne sah Cosimo überrascht an. Warum nahm er so viel Anteil am Schicksal eines Mannes, der vor fast dreihundertfünfzig Jahren gestorben war und mit dem ihn nichts verband? Dieser Pater Joseph war offenbar Engländer und somit nicht einmal sein Landsmann gewesen.
»Sobald wir den Brief entziffert und seine Bedeutung erkannt hatten, machten Anselmo und ich uns auf den Weg nach England, um dort nach der ersten Schrift zu suchen. Das Kloster , von dem Pater Joseph geschrieben hat, existierte nicht mehr. Es war vor über hundert Jahren abgebrannt und danach nicht wieder aufgebaut worden. Uns erwarteten nur noch Ruinen .« Er schluckte, und Anne hatte den Verdacht, dass es ihm Mühe bereitete, die Tränen zurückzuhalten. Pater Josephs Scheitern schien bei ihm einen empfindlichen Nerv zu treffen. »Die Menschen in den umliegenden Dörfern bedienten sich an den Steinen des Klosters, um ihre Häuser und
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