Die Wächter von Jerusalem
Kaffee, frischer Orangensaft und Milch. Es gab sogar ein paar Scheiben Schinken – luftgetrockneter Schinken, hauchdünn geschnitten, so wie man ihn in Italien bevorzugte. Gott allein mochte wissen, wie Elisabeth den hier in Jerusalem aufgetrieben hatte. Anne nahm sich einen der Fladen, schnitt ein Stück von dem Käse ab, der so frisch war, dass er sich mühelos auf dem dünnen Brot verstreichen ließ, und häufte sich Oliven und Linsen auf den Teller. Sie hatte gerade angefangen zu essen , als Cosimo eintrat, dicht gefolgt von Anselmo.
»Guten Morgen!«, sagte Anne und hatte das Bedürfnis, Cosimo und Anselmo zu umarmen. Aber nicht nur sie, auch Mahmud, Esther, Elisabeth, die Leute da draußen auf der Straße und den Rest der bekannten Welt.
Cosimo nickte müde, und Anselmo begnügte sich damit, eine Augenbraue zu heben. Die beiden waren alles andere als Frühaufsteher, das hatte Anne in den Tagen, seit sie hier war, schon begriffen. Aber so übernächtigt wie heute hatte sie Cosimo und Anselmo noch nie gesehen. Cosimo hatte dunkle Ränder unter den Augen, und sein Gesicht wirkte noch blasser als sonst – wenn man von dem dunklen Schatten, den seine Bartstoppeln auf Wangen und Kinn warfen, einmal absah. Auch Anselmo hatte sich noch nicht rasiert, und sein dichtes Haar stand ihm zu allen Seiten vom Kopf ab, sodass er aussah wie ein Punk. Fast gleichzeitig griffen sie zu der hohen bauchigen Kupferkanne mit dem Kaffee. Cosimo machte eine Geste und ließ Anselmo den Vortritt.
Anselmo goss sich von der schwarzen Flüssigkeit in eine zierliche Tasse und gähnte dabei so herzhaft, dass ein Zahnarzt ohne Probleme den Status seines makellosen Gebisses hätte erheben können. Erst nachdem er ein paarmal an seinem Kaffee genippt hatte, schienen seine Lebensgeister zu erwachen . Langsam kehrte das Funkeln in seine rotgeränderten dunklen Augen zurück – und seine Gesprächigkeit.
»Wie geht es Euch heute Morgen, Signorina Anne?«, fragte er mit einer ungewöhnlich tiefen, rauchigen Stimme. Sie klang, als hätte er in der Nacht in einer verräucherten Bar mit Cosimo um die Wette gesoffen. »Habt Ihr gut geschlafen? Die Nächte in Jerusalem können zuweilen überaus stürmisch sein …«
Anne runzelte die Stirn. Was meinte er wohl damit? Hatte Anselmo etwa von Rashids Besuch etwas mitbekommen? Sein Zimmer lag zwar am anderen Ende des Flures, aber wenn er in der Nacht wach gewesen war, konnte er sehr wohl etwas gehört haben. Sie warf Cosimo einen raschen Blick zu, um herauszufinden , wie er auf Anselmos Bemerkung reagierte, aber er schien immer noch nicht in der Wirklichkeit zu sein. Er saß mit aufgestützten Ellbogen am Tisch und trank seinen Kaffee – langsam, vorsichtig, in ganz kleinen Schlucken und mit geschlossenen Augen, als wollte er wenigstens noch ein paar Minuten des offenbar versäumten Schlafes nachholen.
»Danke der Nachfrage. Anscheinend habe ich besser geschlafen als du«, erwiderte Anne. »Verzeih mir meine Offenheit , aber du siehst schrecklich aus. Was habt ihr denn die ganze Nacht getrieben?«
»›Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‹«, zitierte Anselmo mit einem anzüglichen Lächeln und rieb sich das stopplige Kinn. »Aber ich werde mich rasieren, sobald ich wach genug bin, um mich dabei nicht zu verletzen. Versprochen .« Er nahm sich einen der Brotfladen, ließ Honig darauf tropfen, wickelte ihn zu einer Rolle und biss hinein.
»Wir haben geredet«, sagte Cosimo. Seine Einmischung in das Gespräch geschah so unerwartet, dass Anne unwillkürlich zusammenzuckte. Auch seine Stimme klang heiser wie nach einer durchzechten Nacht, seine Augen waren immer noch geschlossen. »Anselmo und ich mussten einiges besprechen. Vieles davon betraf auch Euch. Und dabei haben wir …« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Der Wein in diesem Land ist wahrlich nicht übel.«
Anselmo und Cosimo lachten heiser.
»Ihr habt also über mich gesprochen?« Die scheinbar nur so dahingeworfenen Worte weckten Annes Neugierde. Dabei war sie sicher, dass Cosimo auf diese Frage gewartet hatte. Wie von ihm geplant, hatte sie nach dem ausgelegten Köder geschnappt. Er tat und sagte selten etwas ohne Grund oder Hintergedanken. »Was? Worüber habt ihr geredet?«
»Über Eure Anwesenheit hier in Jerusalem. Den möglichen Grund. Und wir sprachen auch über den wahren Anlass unseres Aufenthaltes in dieser Stadt.«
Er öffnete die Augen und sah sie an. Anne schluckte. Sie hatte plötzlich den Eindruck,
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