Die Wächter von Jerusalem
und wartete, bis sich ein Teil der Rückwand des Regals zur Seite geschoben hatte.
Anne schüttelte den Kopf und versuchte sich daran zu erinnern , was sie an diesem Morgen in Cosimos Bibliothek gefunden hatte. Da waren Bücher gewesen, unzählige Bücher über alle möglichen Wissensgebiete. Vor allem aber Bücher über Magie und Okkultismus, »Zauberbücher«. Doch ein Geheimfach hatte sie nicht entdeckt.
»Cosimo, Ihr spinnt. Ich habe nie ein Geheimfach …«
»Nun, das ist auch jetzt ohne Bedeutung«, unterbrach er sie und hantierte in den Tiefen des Regals herum, »denn ich habe daraus gelernt. Das Geheimfach wie auch sein Inhalt ist jetzt besser gesichert als früher. Viel besser.« Ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht, und Anne konnte sich nicht erklären , weshalb sie plötzlich an verborgene, mit tödlichen Giften präparierte Sprungfedern, Dornen und Hebel dachte. Cosimo war alles andere als dumm, und zuzutrauen war es ihm auch.
Es dauerte eine Weile, bis sie schließlich ein leises »Klick« hörte. Anscheinend öffnete sich in den Tiefen der Mauernische etwas, dann holte Cosimo einen Gegenstand hervor. Langsam zog er ihn heraus, als hätte er seine Hand in einen Korb voll giftiger Schlangen gesteckt und würde mit jeder unbedachten Bewegung riskieren, gebissen zu werden. Und dann sah Anne, was sich in dem Geheimfach befunden hatte. Entgegen ihrer Vermutung war es nicht das Buch über die Artussage, sondern eine schmale Kartusche aus dunklem Leder.
Cosimo ging mit ihr zu seinem Schreibtisch, zog den Deckel ab und holte ein zusammengerolltes Stück Pergament hervor. Dann winkte er Anne zu sich.
»Kommt, Signorina, von dort hinten könnt Ihr nichts sehen.«
Anne stellte sich neben ihn an den Schreibtisch und sah auf das Pergament hinunter. Sie konnte nicht erkennen, was dort stand. Die kleine, enge Handschrift war kaum lesbar, die Tinte schon stark verblasst und das Pergament so vergilbt, als hätte es jahrelang in einer verrauchten Kneipe unterm Tisch gelegen . Tintenflecken zierten es an allen möglichen Stellen. Unterhalb des unleserlichen Textes befand sich eine Zeichnung. Auf den ersten Blick sah sie aus wie die unbeholfenen Kritzeleien eines Kleinkindes. Doch Anne hatte den Verdacht, dass mehr dahintersteckte, wenn Cosimo sich die Mühe machte, dieses Pergament zu sichern, als wäre darauf der Ort verzeichnet , an dem man den Heiligen Gral finden konnte.
»Dieser Brief lag in dem Buch«, erklärte Cosimo mit gedämpfter Stimme. »Er ist fast ebenso alt wie das Buch.«
»Ach ja?« Anne starrte auf die engen Zeilen und die Zeichnung , bis ihr die Augen brannten. Doch sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Es war also ein Brief, ein alter Brief. Ein alter Brief mit einer Zeichnung. Aber warum war dieser Brief so wichtig?
»Wie das Buch, zwischen dessen Seiten er vermutlich jahrhundertelang gesteckt hat, ist auch dieser Brief auf Englisch verfasst«, erklärte Cosimo. »Anselmo und ich haben eine ganze Weile gebraucht, um ihn zu entziffern. Die Tinte ist bereits stark verblasst, und das Pergament ist vergilbt und brüchig, da es von schlechter Qualität ist. Beherrscht Ihr die englische Sprache, Signorina Anne?«
Anne wollte seine Frage gerade bejahen, als ihr einfiel, dass sie Englisch zwar wie ihre zweite Muttersprache beherrschte, aber das bezog sich natürlich auf das moderne Englisch. Von dem mittelalterlichen Englisch wusste sie kaum mehr als das, was noch aus ihrer Schulzeit hängen geblieben war, als sie Shakespeare im Original gelesen hatten. Und das war dürftig genug, schließlich war es auch schon mindestens fünfzehn Jahre her. Also schüttelte sie wahrheitsgemäß den Kopf.
»Nicht sehr gut, fürchte ich.«
Cosimo nickte. »Dann werde ich Euch erklären oder vorlesen , was in diesem Brief steht.« Er räusperte sich und begann zu lesen. Dabei schien sich seine Stimme zu verändern, als würde plötzlich ein anderer Mann seinen Platz in der Bibliothek einnehmen – ein Mann mit einer verbeulten, staubigen Rüstung, die das zerrissene und blutbefleckte Wappen der Kreuzritter trug.
»›Mein Bruder im Herrn!
Wenn Euch diese Zeilen erreichen, so weile ich vermutlich schon nicht mehr in dieser Welt. Dem Schwert der Moslems in der Heiligen Stadt sind wir glücklich entkommen, doch nun hat uns mitten in der Fremde die Pest eingeholt. Pater Andrew hat sie schon dahingerafft – der Herr sei seiner Seele gnädig. Pater Jacques und Pater Peter reden nur noch im
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