Die Wächter von Jerusalem
Der Tote hatte es melden wollen, und deswegen haben sie ihn umgebracht.« Kemal grinste schadenfroh. »Dafür sind sie dann auch beide hingerichtet worden.«
Ein unterdrücktes Keuchen links von ihm ließ Rashid den Kopf wenden. Er warf Yussuf einen besorgten Blick zu. Der Freund sah krank aus. Er konnte kaum ruhig stehen. Sein Gesicht war gerötet, kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und immer wieder wischte er sich die Hände an seinen Hosenbeinen ab.
»Was ist mit dir?«, flüsterte er ihm zu. »Ist dir nicht wohl? Musst du austreten?«
Yussuf schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Nein, es ist nur …« Der Adamsapfel an seinem Hals hüpfte so nervös auf und ab, dass Rashid überlegte, ob er Ibrahim Meldung erstatten und ihn bitten sollte, Yussuf gehen zu lassen. Doch dann sprach Yussuf weiter. Leise, so leise, dass Kemal, der bereits ein wenig schwerhörig war, ihn auf gar keinen Fall verstehen konnte. »Was ist, wenn … Ich meine, vielleicht findet diese große Inspektion wegen mir statt?«
Rashid runzelte unwillig die Stirn. »Komm schon, Yussuf, warum sollte denn …«
»Du erinnerst dich doch an die beiden Mädchen. Als wir nach diesem Prediger gesucht haben.« Yussuf sah ihn kurz an. In seinem Gesicht zuckte es, als wollte er nur mit Hilfe seiner Muskeln einen ganzen Fliegenschwarm vertreiben. »Wenn sie nun etwas erzählt haben? Ihren Eltern oder …«
Yussufs Stimme erstarb. Es klang, als würde er nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken. Rashid biss sich auf die Lippe und schwieg. Jetzt konnte er die Nervosität des Freundes verstehen , denn abwegig war der Gedanke keinesfalls. Vielleicht hatten die Eltern der beiden Mädchen den Vorfall gemeldet und forderten nun Genugtuung von den Janitscharen. Auch wenn sie Christen waren, so unterstanden sie doch dem Schutz des Sultans und damit demselben Recht. Was Yussuf getan hatte, war nicht nur ein Verstoß gegen die Regeln der Janitscharen , sondern auch ein schweres Vergehen vor den Augen des Gesetzes. Er konnte froh sein, wenn er mit fünfzig Hieben davonkam.
Rashid dachte nach. Er verabscheute zutiefst, was Yussuf getan hatte, aber sie waren Freunde. Außerdem trug er selbst einen Teil der Verantwortung für diese unerfreuliche Sache. Wenn er nicht in der Küche eingeschlafen wäre, wäre den beiden Mädchen nichts geschehen und Yussuf müsste sich jetzt keine Sorgen machen. Aber was konnte er tun, um die Schuld des Freundes in einem milderen Licht erscheinen zu lassen? Ibrahim war ihm nicht besonders wohl gesinnt, das war kein Geheimnis. Ständig hatte er an ihm etwas auszusetzen, und er wartete stets nur auf eine Gelegenheit, ihn zu bestrafen. Was konnte er also für Yussuf tun? Die ganze Schuld auf sich nehmen ? Gut, sie waren Freunde, aber das führte dann doch ein wenig zu weit.
Der Meister der Suppenschüssel trat zum nächsten Kameraden . Sie waren fünfzig Mann in dem Schlafsaal, und es ging quälend langsam voran. Ibrahim war noch mindestens sechs Betten von ihnen entfernt.
»Yussuf«, raunte Rashid dem Freund zu und warf hastige Blicke zur Seite, ob Ibrahim oder Omar, der Kochmeister, ihn gehört hatte. Es wäre dumm gewesen, ausgerechnet jetzt die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch glücklicherweise machte die über den Boden schleifende Kiste genügend Lärm. »Hör mir gut zu. Bleib ruhig, verstehst du? Sag nichts, ohne dass du gefragt wirst. Und versuch dich ganz normal zu verhalten . Wir wissen nicht, ob es um dich geht. Und selbst wenn, du hast nichts von den beiden Mädchen mitgenommen. Sie können nicht beweisen, dass du es gewesen bist. Also beherrsch dich.«
»Du hast gut reden.« Yussufs Stimme klang trotz des Flüstertons kläglich wie die eines kleinen Jungen, der ein Stück Käse aus der Speisekammer gestohlen hatte und sich nun vor seinem strengen Vater fürchtete.
»Denk einfach an etwas anderes – an eine Partie Schach, das Mittagessen oder das Bad. Yussuf, wenn sie dich erwischen , sind wir beide dran. Mich trifft ebenso viel Schuld wie dich, und Ibrahim wird sich mit Freuden …« Rashid schwieg. Der Blick des Kochmeisters hatte ihn gestreift. Nur flüchtig, aber vielleicht hatte er doch etwas gehört. Den Meister der Suppenschüssel zu täuschen war ein Leichtes. Er hatte so viele Aufgaben und Verpflichtungen, dass er sich nicht wirklich um alle Janitscharen kümmern konnte. Von vielen kannte er gewiss nicht einmal den Namen. Aber Omar war ein überaus erfahrener Offizier, der jeden Einzelnen
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