Die Wächter von Jerusalem
war Anselmo Cosimos Diener . Auch wenn die beiden im Jahre 2004 ein recht offenes , fast freundschaftliches Verhältnis zueinander zu haben schienen, so war es doch wohl eher ungewöhnlich, im Mittelalter einen Diener am Schreibtisch in der Bibliothek seines Herrn sitzen zu sehen. Sollte er sich also ihr gegenüber unverschämt verhalten, so konnte sie Cosimo von dieser Anmaßung berichten.
Anne versuchte sich von ihrem unbequemen Lager zu erheben . Doch es war nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie fühlte sich, als hätte sie die ganze Nacht auf dem Boden geschlafen. Ihre Gelenke waren steif, und jeder einzelne Muskel schmerzte, als hätte man sie verprügelt. Gequält stöhnte sie auf. Anselmo fuhr erschrocken zusammen und sprang von seinem Stuhl auf, als wäre sie gerade eben vor seinen Augen aus dem Nichts erschienen.
»Signorina Anne, ich …«, stammelte er und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, während ein paar Bogen Pergament um ihn herum sanft zu Boden schwebten. »Ich …«
»Verzeihung, wenn ich dich erschreckt habe, Anselmo«, sagte Anne, rieb ihren Arm und versuchte langsam ihre Hand und die Finger zu bewegen. Sie hatte überhaupt kein Gefühl mehr darin. »Ich schätze, mein Erscheinen hier in der Bibliothek ist nicht gerade das, womit du heute gerechnet hast.«
»Nein, wahrlich, es war schon eine Überraschung, als ich Euch vorhin hier liegen sah.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er kam um den Tisch herum, beugte sich zu ihr hinunter und reichte ihr die Hand. »Kann ich Euch beim Aufstehen behilflich sein, Signorina?«
»Das wäre freundlich von dir.« Anne stöhnte erneut auf und wäre fast wieder in den Knien zusammengesunken, kaum dass sie aufrecht stand. Ihr rechtes Bein wollte ihr einfach nicht gehorchen. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie sich von Anselmo zu einem Sessel führen und setzte sich ächzend . »Ich komme mir vor wie eine alte Frau mit gichtigen Gliedern.«
»Verzeiht mir, Signorina Anne«, sagte Anselmo. »Vielleicht hätte ich Euch doch in ein Bett tragen lassen sollen. Allerdings wollte ich Euch nicht vor der Zeit wecken. Ehrlich gesagt habe ich sogar gehofft, dass Ihr erst erwacht, wenn Cosimo wieder im Haus ist. Ich habe gerade einen Brief an ihn geschrieben und …« Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach ihn. »Ja?«
Ein Mädchen trat ein – aber nur einen Schritt. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. Sie senkte den Kopf und schwieg.
Anselmo verdrehte die Augen. »Ah, Esther. Ist das Gemach fertig?« Das Mädchen nickte hastig. »Sehr gut. Dann lauf geschwind zu Elisabeth und sag ihr, sie kann das Mahl jetzt hier in der Bibliothek servieren. Meine Tante ist soeben erwacht.«
Das Mädchen nickte wieder und verschwand, ohne auch nur einmal den Blick erhoben zu haben. Anne runzelte die Stirn und sah Anselmo überrascht an.
»Tante?«
Anselmo schluckte, und eine leichte Röte färbte seine Wangen.
»Verzeiht mir diese Anmaßung, Signorina Anne, aber ich musste mir für die Diener eine Geschichte ausdenken.« Er fuhr sich verlegen durch das dichte Haar, sodass es ihm zu allen Seiten vom Kopf abstand. »Ihr kennt die Diener hier nicht. Allein Euer Auftauchen in der Bibliothek hat sie in helle Aufregung versetzt. Und …«
»Hat einer von ihnen etwa gesehen, wie ich hier ankam?«
»Nein«, antwortete Anselmo. »Esther fand Euch, als sie heute in den Morgenstunden die Fenster öffnen wollte. Das dumme Ding wäre fast in Ohnmacht gefallen, und die Köchin hat ein Geschrei gemacht, das Tote hätte erwecken können. Eine fremde Frau mitten auf dem Teppich der Bibliothek, und keiner weiß, woher sie kommt! Wenn Esther oder Elisabeth an der Zisterne oder auf dem Markt den Dienern aus den anderen Häusern das erzählt hätten, so hätte diese Geschichte schon bald die Runde durch ganz Jerusalem gemacht. Von Mund zu Mund wäre sie weiter ausgeschmückt worden, und …« Er brach ab und fuhr sich erneut durchs Haar. »Ich weiß nicht, ob Ihr Euch vorstellen könnt, welche Blüten die Fantasie der Menschen in dieser Stadt zu treiben in der Lage ist – im Guten und noch mehr im Bösen. Doch ob gut oder böse, wir können es uns nicht leisten, im Gerede zu sein. Wir dürfen nicht auffallen . Und deshalb habe ich den Dienern gesagt, Ihr seid eine Cousine meines Vaters. Und wegen der langen anstrengenden Reise aus Florenz seid Ihr beim Warten auf uns in der Bibliothek eingeschlafen.«
»Eine Cousine deines Vaters? Aber …«
»Cosimo«,
Weitere Kostenlose Bücher