Die Wächter von Jerusalem
dreimal fragte, was zur Hölle er hier eigentlich zu suchen hatte, so harrte er doch an Cosimos Seite aus. Und der hatte nun mal entschieden, dass sie für unbestimmte Zeit hier wohnen sollten. Jerusalem. Von allen Städten auf der Welt hätte Anselmo diese gewiss als Letzte ausgewählt.
»Ist sie denn unbekleidet?«, fragte er.
»Nein!«, sagte Mahmud, Elisabeth schrie auf, und Esther schlug sich vor lauter Entsetzen die Hand vor den Mund, als hätte Anselmo versucht, den Leibhaftigen herbeizurufen.
Wieder schüttelte er den Kopf. Warum also die Aufregung? Er zuckte mit den Schultern und steckte den Dolch in seinen Hosenbund. Das Metall der Klinge war unangenehm kühl auf seiner Haut, und er erschauerte. Dann öffnete er die Tür und betrat die Bibliothek.
Anselmo sah die Frau sofort. Sie lag wirklich mitten auf dem Teppich vor den beiden hohen Fenstern. Sie trug ein türkisfarbenes Kleid mit Goldstickerei an den Säumen, wie er es schon manchmal bei vornehmen Frauen in Jerusalem gesehen hatte. Es sah aus, als wäre sie gerade vorbeigekommen, um ihm einen Besuch abzustatten, und dabei mitten in der Bibliothek eingeschlafen – oder in einem Anfall von Schwäche zusammengebrochen . Leise näherte er sich der Fremden, hockte sich neben sie auf den Boden und schob vorsichtig und behutsam den Schleier zur Seite, der ihr über das Gesicht gerutscht war.
»Anne«, flüsterte er, als er sie erkannte. Er blinzelte und fragte sich, ob er etwa noch träumte. Doch in der Tat lag hier direkt zu seinen Füßen Signorina Anne, die er seit ihrem rätselhaften Verschwinden aus Florenz nie wiedergesehen hatte. Er erinnerte sich noch gut daran. Das war in jenem Jahr gewesen, als Cosimos Vetter Giuliano von den Pazzi ermordet worden war. Es war in jenem Jahr, als er sich entschlossen hatte, Cosimo auf seinem Weg zu begleiten und ebenfalls das Elixier zu trinken. Und das war mittlerweile … Er kniff die Augen zusammen und rechnete schnell nach. Ja, tatsächlich, es war inzwischen zweiundfünfzig Jahre her. Zweiundfünfzig Jahre …
Mit derselben Behutsamkeit, mit der früher seine Hände unbemerkt die Taschen der vornehmen Leute ausgekundschaftet hatten, legte er den Schleier wieder über Annes Gesicht . Sie wachte nicht auf. Wie sie hierher gekommen war, das war nicht schwer zu erraten. Schließlich hatte er in den vergangenen zweiundfünfzig Jahren oft genug mit Cosimo über das Elixier der Ewigkeit gesprochen. Aber weshalb war sie hier? Warum war sie zurückgekehrt? Und warum besuchte Anne sie ausgerechnet in Jerusalem?
»Junger Herr …«
Mit Widerwillen erinnerte er sich daran, dass er nicht allein war, auch wenn er es sich sehnlichst gewünscht hätte. So dicht, dass er fast die Wärme ihrer Körper auf seiner Haut spüren konnte, standen Mahmud, Elisabeth und Esther bei ihm und warteten. Sie warteten auf eine Antwort, eine Erklärung, die Lösung des Rätsels. Er sah auf. In den Gesichtern der drei Diener spiegelte sich unverhohlene Neugierde. Er musste sich etwas einfallen lassen, um ihnen Annes Anwesenheit in der Bibliothek zu erklären – und um unerfreulichen Klatsch und Tratsch auf dem Markt und an den Zisternen zu verhindern.
»Junger Herr, kennt Ihr etwa diese Frau?«
Der Köchin war deutlich anzusehen, dass sie vor Neugierde beinahe platzte.
»Natürlich. Das ist Signorina Anne. Sie ist eine Verwandte aus Florenz, eine Cousine zweiten Grades meines Vaters. Aber wie sie ins Haus gekommen ist …« Er schüttelte nachdenklich den Kopf und erhob sich. »Ich kann mir nur vorstellen, dass ihr vergessen habt, über Nacht das Tor ordnungsgemäß zu verriegeln. Vielleicht ist sie schon in der Nacht eingetroffen, vielleicht auch erst in den Morgenstunden. Ihr habt wohl ihr Klopfen überhört. Und als ihr niemand geöffnet hat, ist sie eingetreten , wie es in unserer Heimat unter nahen Verwandten üblich ist. Und da sie ohne Zweifel eine weite, anstrengende Reise hinter sich hat, muss sie, während sie auf mich und meinen Vater wartete, vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Wir können nur den Herrn preisen für das Glück, dass sie es war, die sich in dieser Nacht Zugang zu unserem Haus verschafft hat, und kein Dieb.« Er schob die drei Diener aus der Bibliothek . »Ob ich meinem Vater eure Nachlässigkeit und mangelnde Achtsamkeit melden werde, weiß ich noch nicht. Ich werde es mir überlegen. Jetzt ist vor allem wichtig, dass ihr euch um das Wohl meiner …«, er stockte einen Augenblick, »… meiner Tante
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