Die Wächter von Jerusalem
kümmert. Mahmud, du holst ein paar Kissen und eine Decke. Esther, du richtest das Gästezimmer her. Und du, Elisabeth, bereitest eine kräftigende Mahlzeit vor. Wir lassen meine Tante so lange schlafen wie möglich. In der Zwischenzeit werde ich meinem Vater einen Brief schreiben. Er muss seinen Besuch bei dem Ölhändler Elias Ben Joshua abkürzen .« Nachdenklich sah er die geschlossene Tür der Bibliothek an, hinter der Anne Niemeyer schlief, als würde sie vor dem Jüngsten Tag nicht aufwachen wollen. »Mich wundert nur, dass wir keine Nachricht von ihr erhalten haben. Was auch immer sie veranlasst haben mag, die weite Reise auf sich zu nehmen, der Grund muss wichtig sein.«
Langsam, ganz langsam erwachte Anne aus einem tiefen, traumlosen Schlaf.
Wieso ist das Bett auf einmal so hart?, dachte sie. Sie wollte sich umdrehen und musste dabei feststellen, dass ihre rechte Seite fast taub war und etwas Hartes – ein Brett unter der Matratze vielleicht, obwohl es sich eher anfühlte wie eine Gehwegplatte – gegen ihre Knochen drückte.
Sie begann zu frieren und wickelte die Decke enger um sich. Doch die Decke war zu leicht und zu dünn, um wirklich Wärme zu spenden. Dabei hätte sie schwören können, dass auf dem Bett in ihrem Hotelzimmer eine Steppdecke gelegen hatte, eine warme, weiche Steppdecke, mit Schafswolle gefüllt. Genau wie jene, die sie zu Hause hatte.
Wenigstens ist das Kissen gut, dachte sie und schob es sich etwas mehr unter Kopf und Nacken. Das Kissen war weder zu weich noch zu hart und duftete leicht nach Orangenblüten und Nelken. Es war ein angenehmer Duft, der schwache Erinnerungen wachrief – Erinnerungen an Weihnachtsgebäck und einen orientalischen Basar.
Anne war gerade dabei, wieder einzuschlafen, als sie plötzlich ein Rascheln vernahm. Mit einem Schlag war sie hellwach , blieb jedoch liegen, ohne sich zu rühren. Was konnte das nur sein? Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, als sie daran dachte, dass es sich um eine Maus oder – noch viel schrecklicher – gar um eine Ratte handeln könnte. Hier in der Jerusalemer Altstadt, wo die Häuser dicht an dicht standen, die Kanalisation alt und die Keller kaum mehr als finstere Löcher waren, gab es bestimmt viele dieser widerlichen Nagetiere . Und ihr Zimmer hatte schließlich diese großen Terrassentüren zum Innenhof hin. Wenn sie nun eine der Türen nicht richtig geschlossen hatte? Ratten waren intelligent. Wenn sie irgendwohin wollten, fanden sie einen Weg. Steif blieb sie liegen und lauschte. Da – es raschelte wieder. Kam die Ratte etwa näher? Durchstöberte sie gerade ihr Gepäck nach Lebensmitteln ? Oder … Erst als es zum dritten Mal raschelte, merkte sie, dass sie sich getäuscht hatte. Erleichtert atmete sie auf. Das Geräusch klang vertraut und harmlos. Es klang wie das Rascheln und Knistern von teurem, schwerem Papier.
Anne schlug die Augen auf und blickte direkt auf das farbenfrohe Muster eines orientalischen Teppichs.
Ein Teppich? Warum lag sie hier auf dem Boden, und weshalb … Natürlich, das Elixier. Sie hatte das Elixier der Ewigkeit getrunken und war jetzt vermutlich nicht mehr im Jahre 2004, sondern bereits in der Vergangenheit. Sie hatte den Raum nicht verlassen. Doch Sharon hatte ihr erzählt, dass das Zimmer früher als Bibliothek oder Arbeitszimmer gedient hatte. Und weil es wahrscheinlich kein Bett in der Bibliothek gab, lag sie jetzt auf dem Boden. So einfach war das.
Ihre Augen wanderten die verschlungenen Girlanden auf dem Teppich entlang. Sie lenkten ihren Blick auf Regale, schwere Regale aus dunklem Holz, in denen sich kreuz und quer Schriftrollen und Lederbände unterschiedlicher Größe stapelten. Ihre Augen glitten über die Regale hinweg, die jeden nur erdenklichen Raum an den Wänden auszufüllen schienen. Sie musste schließlich den Kopf in den Nacken legen , und da sah sie genau hinter sich die Beine eines Tisches und eines Stuhles, auf dem jemand saß. Im ersten Moment erschrak Anne, denn es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre direkt unter dem Tisch aufgewacht, zu Füßen des Fremden. Doch dann beruhigte sie sich rasch wieder. Sie konnte selbst nicht sagen, weshalb ihr beim Anblick der schlanken Beine, die in einer hellen, weit geschnittenen Hose steckten und mit dunkelroten Pantoffeln an den Füßen, sofort Anselmo einfiel . Und das versetzte sie in gute Laune. Erstens war es tröstlich , gleich bei der Ankunft in der Vergangenheit ein vertrautes Gesicht zu sehen. Und zweitens
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