Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
Vom Netzwerk:
waren so klar, so einleuchtend . Natürlich, es gab Unkraut, es gab giftige Schlangen und Skorpione, die man zertreten musste, damit sie keinen Schaden anrichteten.
    »Lass den Kopf nicht hängen, Stefano«, sagte Pater Giacomo und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Diese Zweifel befallen wohl jeden von uns von Zeit zu Zeit. Das Werk, das wir vollbringen müssen, erscheint uns manchmal grausam . Doch vergiss nie, selbst wenn Unkraut noch so schön blüht, es bleibt stets das, was es ist – Unkraut.«
    Stefano hob den Kopf und sah, dass Pater Giacomo ihm aufmunternd zulächelte.
    »Verzeiht, Pater«, sagte Stefano leise und spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Wie hatte er nur annehmen können – wenn auch bloß für die Dauer einiger Herzschläge –, dieser Mann sei kein Mann Gottes? Hatte er nicht sogar selbst die Wunder des Blutes des Herrn Jesus Christus geschaut , als Pater Giacomo ihm vor vielen Jahren gestattet hatte, einen winzigen Schluck davon zu kosten? Wie konnte er nur so kleingläubig sein? Beschämt sank er vor Pater Giacomo auf die Knie, ergriff den Saum seines Gewandes und verbarg sein Gesicht darin. »Verzeiht mir, bitte, verzeiht mir, Pater, ich habe …«
    »Bitte nicht mich um Verzeihung, sondern den Herrn«, entgegnete Pater Giacomo und zog ihn wieder auf die Füße. »Heute Abend während der Versammlung wirst du Gelegenheit dazu haben. Berichte den anderen Brüdern und Schwestern von deinen Zweifeln und bereue vor ihren Augen und Ohren . Abgesehen davon …« Er machte eine Pause, runzelte die Stirn und sah sich um, als würde er die Gegend nach etwas absuchen . »Vielleicht trifft dich gar keine Schuld. Ich bin mir nicht sicher, aber möglicherweise ist dies der Ort, an dem unser Herr Jesus Christus den Versucher traf. Möglicherweise ist er immer noch hier.«
    Stefano riss erschrocken die Augen auf. »Pater Giacomo!«, keuchte er. »Ihr meint doch nicht etwa, dass hier …«
    »Doch, mein Sohn. Genau das meine ich. Vielleicht ist Satan nie von diesem Ort fortgegangen. Es würde vieles erklären , zum Beispiel, weshalb die Bewohner die Hütte so überstürzt verlassen haben, dass sie nicht einmal mehr Zeit hatten , ihr Geschirr mitzunehmen. Und natürlich deine Zweifel, dein Hadern mit der Aufgabe, die der Herr uns anvertraut hat. Ja«, er nickte, als wollte er sich selbst in seiner Meinung bestätigen, »das würde es erklären. Unser Herr Jesus Christus war natürlich stark und konnte den Versuchungen widerstehen . Aber Menschenherzen sind so leicht zu verführen.« Pater Giacomo sah noch eine Weile auf die Stadt hinunter. Stefano wagte kaum zu atmen. Kalter Schweiß lief ihm an der Wirbelsäule hinunter. Plötzlich empfand er die Schönheit dieses Ortes als bedrohlich. Wenn er hier wirklich den Einflüsterungen Satans erlegen war, dann wollte er nur noch eines – so schnell wie möglich fort von hier.
    Pater Giacomo gab sich einen Ruck.
    »Sei gewiss, mein Sohn, der Herr hält Seine schützende Hand über uns. Niemand kann uns etwas anhaben, solange wir Seinem Wort folgen. Und nun wollen wir nicht mehr davon sprechen. Lass uns lieber in die Hütte gehen, ich bin hungrig.«
    Der Brief
    Der Vormittag war schon ziemlich weit fortgeschritten, als Anne aufwachte. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, und von der Straße drangen die typischen Alltagsgeräusche der Stadt zu ihr ins Zimmer herein – Frauen, die ihre Wäsche zur Zisterne trugen und sich dabei mit den Neuigkeiten aus der Nachbarschaft versorgten; Diener und Mägde, die ihre Besorgungen und Aufträge erledigten; die schweren, gleichmäßigen Hufschläge von Pferden und die schnelleren, trippelnden der Esel. Sie schwang sich aus dem Bett, wusch sich in der Waschschüssel und kleidete sich rasch an. Sie wollte Anselmo keinen Anlass zum Spott geben. Und sie wollte Rashid nicht verpassen . Aber sie war die Erste, die sich im Speisezimmer an den Frühstückstisch setzte.
    Obwohl sie in dieser Nacht höchstens eine Hand voll Stunden geschlafen hatte, war sie bester Laune und fühlte sich so energiegeladen, als hätte sie eine mindestens vierwöchige ayurvedische Kur hinter sich. Außerdem war sie hungrig. Der Tisch war gedeckt mit allem, was das Herz begehrte – köstlich duftende , noch ofenwarme Brotfladen, frischer weißer Schafskäse , glänzend schwarze Oliven, ein Salat aus Zwiebeln und noch warmen Linsen, goldgelbe Butter, dunkler sirupartiger, nach Pinien und Kräutern duftender Honig, starker dickflüssiger

Weitere Kostenlose Bücher