Die Wächter von Jerusalem
sie Flüsse, die alle aus derselben Quelle entsprangen und ins selbe Meer flossen? Und welche anderen Flüsse gab es noch, Flüsse, die er noch nicht kannte, die aber denselben Ursprung hatten? Gott hatte die Welt erschaffen. Und Er sah, dass es gut war. Galt das auch für die Moslems und Juden? Liebte Gott sie ebenso wie ein Vater , der alle seine Söhne liebt, ganz gleich, wie verschiedenartig sie auch sein mögen, und der jeden mit einer seinen Fähigkeiten angemessenen Aufgabe betreut? Waren sie alle Söhne desselben Vaters?
Das Rollen von Kiesel auf dem sandigen Boden ließ Stefano zusammenzucken. Pater Giacomo kehrte von seinem Gebet auf dem Berg zurück. Unwillkürlich richtete Stefano sich kerzengerade auf und wandte seinen Blick von der Stadt ab. Ohne dass er wusste, weshalb, hatte er ein schlechtes Gewissen. Ob er seine Gedanken beichten musste?
»Stefano!«, rief Pater Giacomo und kam auf ihn zu.
Warum, fragte sich Stefano wie schon so oft, warum ist sein Gesicht so glatt wie das eines jungen Mannes? Es sollte alt sein, voller Runzeln, sein Haar sollte grau und dünn sein, sein Mund zahnlos. Auch ich sollte eigentlich älter aussehen.
Ein einziges Mal hatte Stefano Pater Giacomo danach gefragt . Dieser hatte ihn auf die Bibel verwiesen. Gott habe viele Seiner Propheten mit einem überaus langen Leben gesegnet. Abraham zum Beispiel. Es sei eine Gnade, ein Lohn für ihre Treue. Aber heute fragte sich Stefano zum ersten Mal, ob das auch wirklich stimmte?
»Es ist heiß heute«, sagte Pater Giacomo und wischte sich mit dem Ärmel seines knöchellangen Gewandes den Schweiß von der Stirn. »Nicht mehr lange, und die Luft wird vor Hitze flimmern. Wir sollten uns dann in den kühlen Schutz der Höhle zurückziehen und dort den Abend erwarten.«
»Ja, Pater«, erwiderte Stefano.
Der Eingang der Höhle lag unweit ihrer Hütte, hinter einem Strauch verborgen. Von dort aus gelangte man durch viele verschlungene Gänge und Stollen zu ihrem geheimen Versammlungsort unter den Mauern der Stadt. Eine weitere Fügung unter vielen, die ihm eigentlich hätte deutlich machen sollen, dass sie Gottes Willen folgten. Trotzdem steckte plötzlich ein giftiger Stachel in seinem Herzen, dem er keinen Namen geben konnte. War es Anmaßung, Stolz, Unglauben? Die böse Saat des Satans?
»Stefano, was ist mit dir?«
Stefano spürte, wie er unter Pater Giacomos forschendem Blick errötete.
»Nichts«, sagte er und wusste gleich darauf, dass es eine Lüge war, auch wenn er nicht hätte in Worte fassen können, was der Grund für sein plötzliches Unbehagen war, weshalb sich ihm die Eingeweide zusammenzogen und sich anfühlten, als hätte er eine Flasche mit brennendem Öl geleert. Warum ihm all die seltsamen Gedanken durch den Kopf gingen. »Ich habe hier auf Euch gewartet, Pater, und mir die Gegend angeschaut .«
Pater Giacomo ließ den Blick über die Stadt schweifen und sah dann wieder Stefano an. Seine Augen wurden schmal und schienen bis auf den Grund seiner Seele zu dringen, und Stefano fragte sich, was Pater Giacomo dort wohl erblickt haben mochte. War er verloren? Sein Blut pochte in seinen Schläfen, und sein Gesicht brannte, als wäre er in sengender Sonne eingeschlafen .
»Du hast Recht, die Gegend ist schön, Stefano«, sagte Pater Giacomo leise. »Wirklich sehr schön. Der Blick über die Heilige Stadt mag wohl jeden gottesfürchtigen Mann in Erstaunen und Entzücken versetzen.« Er holte Luft, bevor er in jenem Ton fortfuhr, in dem er auch während der Versammlungen zu den Brüdern und Schwestern sprach. »Die Erde ist ein blühender Garten. All das Wunderbare und Schöne, das wir sehen und berühren, hat Gott, der Herr, erschaffen. Doch wir dürfen eines nicht vergessen: Der Herr hat uns auf die Erde gestellt, um auf Seine Schöpfung zu achten und sie zu pflegen. Aber wie können die schönen Blumen, der Weizen und die Obstbäume gedeihen, wenn das Unkraut ihnen Nahrung und Wasser streitig macht und alles derart überwuchert, dass es die nützlichen und schönen Pflanzen erstickt? Jeder Gärtner, jeder Bauer weiß davon und tut, was nötig ist. Das Unkraut wird nicht gehegt und gepflegt, es wird ausgerupft und verbrannt, damit es sich nicht weiter ausbreiten kann. Welche Frau stellt in ihrer Speisekammer keine Mausefallen auf, um ihre Vorräte zu schützen?«
Stefano senkte beschämt den Kopf. Er wusste nicht, wie das zuging, aber Pater Giacomo schien mal wieder seine Gedanken erraten zu haben. Und seine Worte
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