Die Wächter von Jerusalem
gab es Wasser. Frisches, klares Wasser aus der kleinen Quelle, die gleich hinter der Hütte aus dem Fels hervorsprudelte.
Stefano schob den schweren Vorhang zur Seite, der als Tür diente, sodass man am Tisch sitzend auf die Stadt hinunterblicken konnte. Jerusalem, die Heilige Stadt, die Stadt Davids und Jesu. Als sie noch innerhalb ihrer Mauern gewohnt hatten , waren sie von Wohnung zu Wohnung gezogen. Die Brüder und Schwestern im Glauben hatten miteinander förmlich gewetteifert , sie zu beherbergen und zu verpflegen. Dennoch hatte Pater Giacomo irgendwann begonnen, nach einer festen Behausung für sie zu suchen, und schließlich hatte er diese Hütte ausfindig gemacht. Sie war erst kurz zuvor verlassen worden, selbst das Geschirr der Vorbesitzer war noch vorhanden gewesen. Manchmal, wenn er an der Quelle Wasser schöpfte, fragte Stefano sich, weshalb die Bewohner die Hütte verlassen hatten. Sie war nicht kaputt, und ihre Lage direkt am Hang mit dem schützenden Berg im Rücken, der klaren Quelle und dem Blick auf die Stadt zu ihren Füßen war einfach unbeschreiblich . War es Fügung, ein Fingerzeig Gottes? Stefano hätte es nicht gewundert. Es wäre nur einer von vielen, deren Zeuge er im Laufe seines Lebens geworden war. Denn nur einen Tag, nachdem sie die Stadt verlassen und die Hütte bezogen hatten, hatten die Janitscharen damit begonnen die ganze Stadt nach ihnen abzusuchen.
Stefano stellte zwei Teller und zwei Becher auf den grob zusammengezimmerten Tisch. Pater Giacomo würde gleich vom Gebet auf dem Berg zurückkehren. Er ging immer ein Stück den Abhang hinauf, um zu beten, so wie es auch die großen Propheten getan hatten. Und er ging stets allein. Dass Stefano ihn dabei nie begleiten durfte, störte ihn nicht. Seit er denken konnte, hatte Pater Giacomo sich immer mal wieder zurückgezogen . Manchmal waren es nur einige Stunden im Monat, in denen er durch nichts und niemanden gestört werden wollte, manchmal geschah es öfter. Seit sie in Jerusalem waren, zog er sich täglich für mehrere Stunden zurück. Meist ging er noch vor Morgengrauen fort und kam erst wieder, wenn die Sonne schon hoch am Himmel stand. Stefanos Aufgabe war es, in der Zwischenzeit das Frühstück zu richten und die Hütte in Ordnung zu bringen. Und wenn er damit fertig war, stellte er sich an die Tür und blickte auf die Stadt hinunter, die sich vor seinen Augen ausbreitete wie die Krone eines Königs, die auf einem aus den unterschiedlichsten Stoffen gewebten Kissen ruhte. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Kuppeln der Moscheen , ließ die Synagogen leuchten wie kostbare Edelsteine und die Kreuze auf den Kirchen blitzen wie Diamanten. Er kannte keinen schöneren Anblick.
Stefano lehnte sich gegen den Türpfosten und dachte nach. Er versuchte sich vorzustellen, wie Jerusalem aussehen würde , wenn der Kreuzzug eines Tages erfolgreich beendet sein würde. Würden die Moscheen und Synagogen dann immer noch stehen und das Auge des Betrachters mit ihrer Schönheit erfreuen? Oder würden sie brennen, in Schutt und Trümmern liegen und allmählich durch neu erbaute Kirchen, Kapellen und Kathedralen ersetzt werden? Er merkte, dass ihm diese Vorstellung nicht gefiel, sie stimmte ihn traurig. Die zierlichen Minarette und die großen gewölbten Kuppeln der Synagogen gehörten zum Bild der Stadt wie die Farben unterschiedlicher Blumen zu einer Wiese.
Blumenwiesen. Stefano trat auf das andere Bein, während er an Wiesen und blühende Sträucher dachte. Es gab so viele bunte und verschiedenartige Blumen auf der Welt. Es gab mehr Arten von Tieren, als er es sich vorstellen konnte. Selbst Käfer und andere Insekten gab es in einer Vielfalt, die ihn immer wieder in Erstaunen versetzte. Nicht einmal Steine, Kiesel und Felsen glichen einander. Und wie war es erst mit den Menschen? Jeder Einzelne war anders – groß, klein, dick, dünn, dunkelhaarig, blond … Warum? Warum hatte es Gott gefallen, alles anders zu machen, jedes Geschöpf des Himmels und der Erde, jede Blume, selbst solche Kreaturen wie Insekten?
Weil Gott, der Herr, die Vielfalt liebt, dachte Stefano und atmete tief ein. Wie schön diese Welt ist, Herr der wunderbaren Vielfalt. Wie unvergleichlich schön.
Und wie war es dann mit den Religionen? Waren auch sie lediglich ein Teil dieser gottgewollten Vielfalt? War jede von ihnen nur eine einzelne Farbe des Regenbogens? Moslems, Juden , Christen – gehörten sie zusammen, um der Welt ihren bunten Anstrich zu verleihen? Waren
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