Die Wächter von Jerusalem
wird es nachher an der Rezeption abgeben.« Er wandte sich an Anselmo. »Wir waren unvorsichtig, mein Freund. Diesen Fehler müssen wir auf der Stelle korrigieren.«
Anselmo nickte. »In Ordnung. Ihr redet, und ich passe auf, dass sich nicht noch mehr ungebetene Lauscher in den Büschen verstecken.«
Cosimo winkte Anne zu sich. Während sie langsam dorthin gingen, wohin er seinen Ball geschlagen hatte, lief Anselmo voraus.
»Es ist ein großes Opfer für ihn«, erklärte Cosimo, und in seiner Stimme lag die Wärme eines Vaters, der über seinen Sohn spricht. »Er liebt das Spiel. Beinahe noch mehr als ich. Und natürlich ist er besser.« Ein Lächeln huschte über sein schmales, blasses Gesicht. So rasch, dass Anne es beinahe übersehen hätte. Aus der Ferne winkte Anselmo. »Es ist alles in Ordnung. Wir können weiterreden. Wo waren wir stehen geblieben?«
»Sie erzählten gerade von der uralten Schrift, die die Hexe Ihnen und Giacomo gegeben hat. Sie sagten, sie stamme von Merlin.« Sie machte eine kurze Pause. »Meinen Sie wirklich den Merlin aus der Artussage?«
»In der Tat, von dem spreche ich. Er hat diese Handschrift verfasst, und ich habe bis zum heutigen Tag noch keinen Grund gefunden, an der Echtheit dieses Dokuments zu zweifeln .« Cosimo blickte mit einem Ausdruck in die Ferne, als wäre es ihm möglich, direkt in die Vergangenheit zu schauen. »Die Schrift war verschlüsselt, und es dauerte eine ganze Weile, bis es mir und Giacomo gelungen war, den Code zu knacken. Wir …«
»Sie haben die Schrift also doch gemeinsam entschlüsselt?«, fragte Anne ungläubig.
»Natürlich. Wieso?«
»Weil …« Anne brach ab und runzelte die Stirn. Sie dachte an jenen Tag, als sie bei Giacomo de Pazzi zum Essen eingeladen war. »Ich habe eine andere Version der Geschichte gehört .«
Cosimo lachte auf, doch es war ein Lachen voller Bitterkeit.
»Ich habe es nie wirklich begreifen können, weshalb man Giacomo seine Lügen stets eher geglaubt hat als mir die Wahrheit . Natürlich klang seine Geschichte anders. Er konnte Ihnen ja wohl kaum die Wahrheit erzählen. Er hätte Sie sonst auf der Stelle töten müssen, und das hätte seinen Plänen geschadet. Er brauchte Sie, Anne. Oder besser gesagt, er brauchte Ihr Kind. Aber ich greife voraus.« Cosimo machte eine Pause, um die Fahne zu fixieren, die in etwa fünfzig Metern Entfernung zu sehen war. »Die Schrift entpuppte sich als ein Rezept – hiervon so viel, eine Hand voll davon. Es standen so exakte Angaben darin, dass es uns möglich war, das Elixier der Ewigkeit zu brauen. Wir taten es heimlich in dem geheimen Laboratorium eines Apothekers, der bei meiner Familie in der Schuld stand. Und wir kosteten davon, obwohl die Schrift nicht vollständig war und die Zeilen plötzlich abbrachen.«
Er holte aus, und der Ball flog in einer kurzen, geraden Flugbahn auf die Fahne zu, rollte noch einen halben Meter über das Grün und blieb dann dicht neben dem Loch liegen. »Die Worte der letzten Sätze auf der Seite haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben: ›… Doch hierbei ist durchaus Vorsicht geboten, denn mit der Zeit tritt eine Gewöhnung ein. Höhere Dosen zum Erreichen der erwünschten Wirkung des Elixiers werden notwendig. Daher empfehle ich, nicht von der von mir beschriebenen Zubereitung abzuweichen . Außerdem ist zu bedenken, dass …‹ An dieser Stelle brach der Text ab. Erst viel später wurde mir klar, dass es sich dabei um eine Warnung handelte, eine Warnung, die wir beide – sowohl Giacomo als auch ich – in unserer jugendlichen Leichtfertigkeit und Abenteuerlust in den Wind geschlagen haben.«
Sie gingen auf die Fahne zu, während Anselmo auf dem Hügel über ihnen stand und nach allen Seiten Ausschau hielt wie ein Bodyguard.
Fehlt nur noch, dass er eine Maschinenpistole im Anschlag hält, dachte Anne und fragte sich, ob die Ausbuchtung in der Tasche seiner Jacke nicht vielleicht sogar eine Waffe sein könnte. Sie begann sich unbehaglich zu fühlen. Als sie heute früh aufgestanden war, hatte sie gehofft, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Mit einer Gefahr für Leib und Leben hatte sie nicht gerechnet.
»Giacomo und ich tranken noch in derselben Nacht von dem Elixier«, fuhr Cosimo fort, während er die Entfernung zum Loch abmaß. »Und es wirkte. Es war fantastisch. Wir konnten in die Vergangenheit reisen, mit Menschen reden, die schon lange vor unserer Geburt gestorben waren. Und wir nutzten dieses Elixier ausgiebig.
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