Die Wächter von Jerusalem
Ihr Sohn, Anne, wäre nie geboren worden.«
Anne schwieg. Ihr Sohn. Das Baby, das ihr geraubt worden war, das Giacomo de Pazzi – aus welchen Gründen auch immer – entführt hatte. Sie konnte sich noch dunkel an sein plötzliches Auftauchen im vom wütenden florentinischen Volk halb zerstörten Palazzo der Familie Pazzi erinnern, an die grässlichen Schreie seiner Mutter, die bereits die Grenzen zum Wahnsinn überschritten hatte. Und sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie Giacomo durch die Geheimtür wieder verschwunden war – langsam und bedächtig, mit dem Neugeborenen auf dem Arm. Ihrem Sohn. Wie mochte es dem Kleinen wohl danach ergangen sein?
»Aber was ist mit den anderen Gästen?«, fragte Anne nach einer Weile. »Sie haben doch jedem das Elixier zu trinken gegeben . Haben Sie alle in die Vergangenheit zurückgeschickt?«
»O nein, natürlich nicht«, antwortete Cosimo und stellte sich zum Abschlag für das nächste Loch auf. »Ich habe lange forschen müssen, um herauszufinden, dass die Art der Wirkung des Elixiers auf einen Menschen genetisch bedingt ist. Die genauen Zusammenhänge kann ich Ihnen zwar nicht erklären , so weit sind meine Forschungen noch nicht gediehen, doch Folgendes kann ich mit Sicherheit sagen: Ob man mit dem Elixier der Ewigkeit in die Vergangenheit reisen kann oder nicht, hat etwas mit einem Gen auf dem X-Chromosom zu tun. Dieses Gen ist in den vergangenen Jahrhunderten immer seltener geworden. In Norddeutschland, Irland und Skandinavien ist es noch gelegentlich zu finden, während es in Südeuropa – besonders in Italien und Spanien – fast vollständig ausgemerzt wurde. Dafür haben die Hexenverbrennungen gesorgt , die Giacomo eifrig unterstützt hat. Stets getreu seinem Leitsatz, ›dem Herrn die Wege zu ebnen und Hindernisse zu beseitigen‹. Womit er zu jeder Zeit auch unbequeme Menschen gemeint hat.« Cosimo zog den Schläger durch, und Anne schluckte. Sie hatte schon eine vage Vorstellung, was das zu bedeuten hatte. »Deshalb fallen die meisten Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts nach dem Genuss des Elixiers lediglich in einen überaus angenehmen Rauschzustand. Ich musste auf jemanden aus dem Norden warten, Anne. Auf Sie. All die Jahre, Jahrhunderte hindurch habe ich auf Sie gewartet, ohne genau zu wissen, wann der Tag unserer Begegnung endlich kommen würde.«
»Und jetzt?«, fragte sie. »Da Sie mich ja nun in die Vergangenheit schicken konnten und Zeit und Geschichte somit ihren Lauf gelassen haben, was soll jetzt geschehen? Soll ich einfach nach Hause gehen und alles wieder vergessen? So tun, als hätte ich nur eine Statistenrolle in einer Fernsehserie gewonnen?«
»Nein, Anne, denn Ihre Aufgabe ist noch keineswegs beendet . Ich wollte Sie bitten, erneut eine Reise in die Vergangenheit auf sich zu nehmen.«
Anne spürte, wie es in ihrem Nacken zu kribbeln begann. Irgendwie hatte sie es geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde.
»Aha. Und warum? Weshalb sollte ich es tun?«
Ein Lächeln huschte über Cosimos Gesicht.
»Die vielen unendlich langen Jahre meines Lebens habe ich nicht allein damit verbracht, meinen Reichtum zu mehren und Golf zu spielen – auch wenn ich zugeben muss, dass beides mir die Wartezeit erheblich verkürzt hat. Nein, ich stellte Nachforschungen nach der zweiten Seite der Handschrift an. Und tatsächlich fand ich sie endlich in einem halb verfallenen Kloster in Südengland. Auf dieser zweiten Seite werden die Auswirkungen des Elixiers im Detail beschrieben. Und es wird ein zweites Rezept erwähnt, mit dessen Hilfe sich ein Mittel herstellen lässt, das in der Lage ist, wenigstens eine der Nebenwirkungen aufzuheben.« Er sah sie an. »Das Elixier trägt nicht umsonst den Namen ›Elixier der Ewigkeit‹. Giacomo altert kaum, weder Krankheiten noch Seuchen können ihm etwas anhaben, und daher wird er auf natürlichem Wege erst nach einer ganzen Ewigkeit sterben, Anne. Hunderte, tausende Menschen müssen unter ihm leiden, wenn er nicht mit Hilfe dieses Gegengiftes gestoppt wird.«
Anne schwieg.
»Ich möchte Sie nun bitten – von ganzem Herzen bitten, Anne –, noch mal in die Vergangenheit zu reisen, nach dem Rezept für das Gegenmittel zu suchen und Giacomo de Pazzi auf diese Weise das Handwerk zu legen.«
»Und warum gerade ich?«, fragte Anne leise. Irgendwie ahnte sie bereits, welche Antwort gleich kommen würde. Und doch musste sie es hören, mit eigenen Ohren hören aus dem Mund von Cosimo de Medici. Sie stellte
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