Die Wächter von Jerusalem
sich nicht einmal die Frage, ob sie ihm glauben wollte. Ob sie die ganze verworrene, verzwickte und alles in allem ziemlich versponnene Geschichte überhaupt glauben konnte . Sie glaubte sie einfach. Und sie hätte nicht einmal sagen können, weshalb. »Es gibt doch bestimmt noch andere, die dieses Gen besitzen und mit dem Elixier in die Vergangenheit reisen könnten. Warum muss ich es tun?«
»Weil Sie der einzige Mensch sind, der in der Lage ist, diese Aufgabe zu erfüllen«, sagte Cosimo, und das Blut rauschte und pochte so laut in Annes Ohren, dass sie schon Angst bekam , eines seiner Worte zu verpassen. »Denn Stefano da Silva, Giacomos engster Vertrauter, seine rechte Hand, seine Stütze und sein Halt, ist niemand anders als Ihr Sohn, Anne.«
Der Wind hatte sich gelegt, der Regen hatte aufgehört. Selbst die Vögel waren verstummt.
Als ob die ganze Natur den Atem anhalten und auf meine Antwort warten würde, dachte Anne. Doch sie konnte nicht. Sie konnte nichts sagen. Stefano. Das war also der Name ihres Sohnes … Dann war es also wahr. Dann hatte sie sich nichts eingebildet, und ihre Gynäkologin brauchte sich auch nicht weiter über die ungewöhnlichen Untersuchungsbefunde den Kopf zu zerbrechen. Sie war wirklich schwanger gewesen. Sie hatte ein Kind bekommen. Giacomo de Pazzi hatte dieses Kind, ihren Sohn, entführt. Und jetzt missbrauchte er es als Werkzeug seines Wahnsinns.
»Was muss ich tun?«, fragte sie. Eine seltsame Ruhe und Entschlossenheit breitete sich in ihr aus, während sie zusah, wie Cosimo sich für den Abschlag zum letzten Loch vorbereitete . Irgendwie ist doch etwas dran an diesem Spiel, dachte sie. Es scheint die Gedanken zu klären und zu beruhigen. Vielleicht sollte ich es auch mal ausprobieren. »Wo soll ich hin?«
»Ihr Ziel ist Jerusalem. Dort haben Anselmo und ich Sie zum zweiten Mal getroffen. Und weil das Elixier nur in der Lage ist, die zeitliche, jedoch nicht die räumliche Distanz zu überbrücken, müssen Sie nach Jerusalem fliegen. Es ist bereits alles vorbereitet. Morgen früh wird Anselmo Sie aufsuchen und ihnen überreichen, was sie für Ihre Reise benötigen – Visum , Flugtickets, einen Stadtplan und die Adresse des Hotels, in dem ein Zimmer für Sie reserviert ist.«
Er überlässt wirklich nichts dem Zufall, dachte Anne und erinnerte sich daran, dass er auch in Florenz alles bis ins letzte Detail für sie geplant hatte – angefangen vom Chauffeur bis hin zum Kostüm und den dazu passenden Accessoires, die schon für sie bereitgelegen hatten.
»Weshalb bitten Sie mich überhaupt darum, wenn Sie doch alles bereits geplant haben?«
Erneut huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
»Ich bin eben ein höflicher Mensch, Anne.«
»Und in welche Zeit soll ich diesmal reisen?« Die Frage kam ihr so leicht und selbstverständlich über die Lippen, als würde sie mit ihrem Chefredakteur über eine Reise zur nächsten Modenschau mit Ziel Paris oder London sprechen. »Ich würde mich gern darauf vorbereiten – vorausgesetzt natürlich, dass es kein ›Eingriff in den Lauf der Zeit‹ darstellen würde, mich einzuweihen.«
»Nein, ich sehe keinen Grund, Sie nicht über die Zeit aufzuklären «, sagte er und ließ den Schläger knapp über dem Ball in der Luft pendeln. »Im Gegenteil. Ihr Gedanke ist sehr vernünftig . Es wird das Jahr 1530 sein. Machen Sie sich mit den Sitten, politischen und geographischen Gegebenheiten in Jerusalem während dieser Zeit vertraut, es wird Ihnen bestimmt nützlich sein und dabei helfen, Fehler zu vermeiden. Aber denken Sie stets daran, dass Sie nicht in den Lauf der Geschichte eingreifen dürfen, so schmerzlich dieser Umstand auch für Sie werden mag.«
Anne nickte. Irgendwie kam sie sich vor, als befände sie sich mitten zwischen den Seiten eines Romans. Es klang alles so fantastisch, so irreal. Und doch zögerte sie keine Sekunde mehr, jedem einzelnen Wort Cosimos zu glauben.
Cosimo holte aus und traf den Ball mit einem melodischen Ton. Der Ball flog und flog, immer höher, beschrieb einen vollendeten Bogen und näherte sich der Fahne. Er kam auf dem Boden auf, sprang noch einmal hoch, bevor er wieder auf den Boden fiel und weiterrollte. Er rollte, rollte noch ein paar Meter und landete schließlich im Loch.
»Ein Hole-in-one zum Abschluss unseres Gesprächs«, sagte Cosimo, nachdem sie eine Weile stumm dagestanden hatten. »Lassen Sie es uns als gutes Omen werten.«
III
Der Bote
Das schrille Läuten der Türklingel riss Anne
Weitere Kostenlose Bücher