Die Wächter von Jerusalem
Mutter seines Sohnes und gehören somit zur Familie. Wenigstens in meinen Augen.«
Anne schnappte nach Luft, und für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus. Dabei hatte sie es doch bereits gewusst. Seit ihrem Gespräch mit Beatrice hatte sie von ihrer Zeitreise gewusst . Trotzdem trafen seine Worte sie wie ein Keulenschlag. Und jetzt, da er davon sprach, wollte sie es gar nicht mehr glauben.
»Was haben Sie gerade gesagt?«
Cosimo schob seinen Schläger in die Golftasche zurück und schulterte sie.
»Ja, Sie haben richtig gehört. Giuliano de Medici ist – oder besser gesagt war – mein Vetter.«
Anne betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. So wie er jetzt vor ihr stand, sah er genauso aus wie jener Cosimo Mecidea, den sie im Palazzo Davanzati auf dem Kostümfest begrüßt hatte. Und er sah auch fast genauso aus wie Cosimo de Medici, den Giuliano ihr im Jahre 1477 als seinen Vetter vorgestellt hatte. Er schien seitdem kaum gealtert zu sein. Aber wie war das nur möglich? Reiste er durch die Zeitalter wie andere durch Europa ? War er ein Magier, ein Hexenmeister?
»Wer sind Sie wirklich, Cosimo?«
»Sie vergeuden wahrlich keine Zeit, Anne«, sagte Cosimo leise. »Mir fallen nur noch zwei weitere Fragen ein, die den Kern dieser Angelegenheit so genau treffen würden. Ich glaube, es ist besser, wenn ich Ihnen diese Frage auf dem Platz beantworte. Lassen Sie uns zum ersten Loch gehen. Anselmo, bist du fertig?«
Anselmo nickte. Und dann gingen sie über den weichen Rasen zum ersten Abschlagplatz. Der Regen war mittlerweile stärker geworden, und selbst der Gärtner mit seinem Düngewagen war nicht mehr zu sehen. Sie waren nun wirklich allein. Allein unter dem trüben grauen Hamburger Augusthimmel. Lediglich eine Amsel saß in einem der alten Apfelbäume und pfiff unverdrossen ein Regenlied.
»Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, ist Mecidea nicht mein richtiger Name. Ich hab ihn mir vor einiger Zeit zugelegt . Meine wahre Identität würde vermutlich zu mancherlei Komplikationen führen.« Er steckte einen kleinen Holzpflock in die Erde und legte einen Golfball darauf. Dann stellte er sich zum Schlag auf. »Ich bin Cosimo Francesco Alessandro de Medici und wurde am 10. Februar im Jahre des Herrn 1447 in Florenz geboren.«
Der Ball flog durch die Luft und landete irgendwo in kaum mehr sichtbarer Entfernung im Gras. Anne war sich nicht sicher , wie sie reagieren sollte. Je mehr sie erfuhr, umso mehr wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht geirrt hatte, dass sie weder an Halluzinationen noch an einer schwerwiegenden Psychose litt. Sie hatte tatsächlich eine Zeitreise unternommen . Sie war Giuliano de Medici begegnet, sie hatte einen Sohn zur Welt gebracht. Trotzdem sträubte sich immer noch alles, was sie an Verstand und Vernunft besaß, gegen diese Erkenntnis. Besonders hier, am helllichten Tag und unter freiem Himmel.
»Nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich Ihnen das glauben soll«, sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. Zeig niemals deine Nervosität, deine Angst oder deine Unwissenheit. Dieser Satz galt nicht nur für Raubtierdompteure, der galt ebenso für Journalisten.
»Ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Gründen nennen«, erwiderte Cosimo ruhig.
»Da bin ich jetzt aber wirklich gespannt«, entgegnete Anne spöttisch, während sie zusah, wie Anselmo nun seinen Schlag ausführte.
»Ihre Erlebnisse in Florenz im Jahre 1477 und 1478 zum Beispiel. Das Elixier der Ewigkeit, von dem Sie auf meinem Kostümball gekostet haben. Die Wahrheit über den Tod von Giovanna de Pazzi und Ihrem Verlobten, meinem Vetter Giuliano . Und außerdem werden Sie doch bestimmt wissen wollen , was aus Ihrem Sohn geworden ist.«
Anne erstarrte. Der Regen lief ihr über das Gesicht und tropfte in den Kragen ihrer Jacke, aber sie spürte es kaum.
»Erzählen Sie, Cosimo.«
Und Cosimo begann. Während sie langsam den Golfbällen hinterher über den Platz von einem Loch zum nächsten gingen , erzählte ihr Cosimo alles, was sie in ihrem »Traum« in Florenz erlebt hatte. Dabei beschrieb er Details, die nur jemand wissen konnte, der ebenfalls da gewesen war. Er erzählte , wie sie sich zum ersten Mal in der Dachkammer seines Vetters Giuliano de Medici begegnet waren. Er berichtete von dem Fest im Landhaus der Familie, das zu Ehren der Enthüllung der Geburt der Venus von Botticelli abgehalten worden war. Er wusste von Giovanna de Pazzis Tod am folgenden Tag, dem Anschlag auf Annes Leben, der
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