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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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dieser Nummer bin ich rund um die Uhr zu erreichen.«
    Anne faltete den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und steckte Cosimos Visitenkarte in ihren Terminplaner . Dann sah sie nachdenklich aus dem Fenster. Ihre Entscheidung . Sie hätte am liebsten laut gelacht. Cosimo hatte wirklich einen eigenartigen Sinn für Humor. Hatte er nicht selbst gesagt , dass er sie im Jahre 1530 in Jerusalem getroffen hat? Und hatte er ihr nicht selbst erklärt, dass jede Einmischung in den Lauf der Geschichte unvorhersehbare Folgen auf die ganze Welt haben könnte? Glaubte er etwa allen Ernstes, dass sie es nach dieser unmissverständlichen Warnung wagen würde, das Elixier einfach in die Toilette zu kippen und sich in Jerusalem einen schönen Tag zu machen? Nein. Sie würde bis ans Ende ihrer Tage mit einem schlechten Gewissen leben müssen. Für jedes Unglück, das fortan in irgendeinem Teil der Welt geschehen würde, würde sie sich verantwortlich fühlen und sich mit Selbstvorwürfen quälen. Und da war es ganz egal, ob es sich um einen Unfall, ein Attentat oder eine Naturkatastrophe handeln würde. Außerdem hatte sie diese Reise nicht aus rein selbstlosen Gründen angetreten. Wenn alles gut lief, würde sie endlich ihren Sohn sehen. Das Kind, das Giacomo ihr einfach weggenommen hatte. Stefano. Diesen Namen hatte sie ihm nicht gegeben, nicht geben dürfen , weil ein Wahnsinniger ihr ihren Sohn einfach gestohlen hatte. Das machte sie wütend. Sie wollte zu ihrem Kind, das war ihr gutes Recht. Stefano. Was mochte wohl aus ihm geworden sein? Er war 1478 geboren worden. Im Jahre 1530 war er zweiundfünfzig. Ein erwachsener Mann. Eine komische Vorstellung.
    Anne seufzte. Ihre Entscheidung stand fest. Sie hatte bereits festgestanden, als sie das Flugzeug bestiegen hatte.
    Um die Zeit bis zur Landung so gut wie möglich zu nutzen, entnahm sie ihrer Tasche eine Mappe mit einem Stapel Blätter. Es waren Auszüge aus verschiedenen Archiven, zu denen sie als Journalistin via Internet Zugang hatte; kurze, knappe Einführungen in die jüdische Religion, über die Geschichte und Entwicklung der Stadt Jerusalem, die politischen Verhältnisse im 16. Jahrhundert, die Bevölkerungsstrukturen und - strömungen in der Stadt und ihr Verhältnis zueinander. Es waren Informationen, die schon so manchem nach Jerusalem reisenden Journalisten bei seinem Job geholfen hatten. Allerdings ging es bei den meisten Kollegen darum, die aktuelle politische Situation zu reflektieren oder Berichte über die kulturelle Entwicklung in diesem von Krisen und Kriegen so arg gebeutelten Land zu schreiben. Wohl kaum jemand vor ihr war leibhaftig in die Vergangenheit gereist.
    Und erzählen darfst du es auch niemandem, dachte sie erneut und merkte plötzlich, dass sie sich auf dieses Abenteuer zu freuen begann. In ihrem Nacken und ihren Handflächen fing es vor Aufregung an zu kribbeln, obwohl sie zweifelsohne auch mit Gefahren rechnen musste. In Florenz wäre sie beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Trotzdem hatte sie keine Angst. Wenigstens jetzt noch nicht. Vielleicht lag es daran , dass die Triebkraft jedes journalistischen Schaffens in ihr geweckt worden war – ihre Neugierde. Ja, sie würde nach Jerusalem reisen, sich in das Hotel begeben und das Elixier genau nach Cosimos Anweisungen zu sich nehmen. Und dann würde sie eine Reise in die Vergangenheit antreten. Sie würde Schauplätze sehen und Dinge erfahren, von denen ihre Kollegen nur träumen konnten. Es war wirklich eine einmalige Gelegenheit.
    Und während sie sich kilometerweit über dem Erdboden in rasender Geschwindigkeit der Heiligen Stadt näherte, vertiefte sie sich in ihre Unterlagen und versuchte sich vorzustellen, was sie in der Vergangenheit erwartete.
    Das Elixier der Ewigkeit
    Langsam und unter lautem Hupen quälte sich das Taxi durch die Altstadt von Jerusalem. Der Flughafen befand sich außerhalb der Stadt, wie bei allen Großstädten – mit Ausnahme von Hamburg. Die kurze Strecke auf der Autobahn bis zu den Vororten hatte der Taxifahrer in rasender Geschwindigkeit zurückgelegt . Dann waren sie in den Berufsverkehr geraten, der sich in keiner Weise von dem in anderen Großstädten unterschied – Busse, LKWs und tausende von Autos fuhren auf den breiten Straßen, überholten, bogen ab, ohne zu blinken, und entlockten Annes Fahrer den einen oder anderen Fluch. Schließlich erreichten sie die Altstadt. Die Häuser wurden älter und schiefer, die Straßen schmaler. Ampeln

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