Die Waechter von Marstrand
Erde holte. Im Nachhinein konnte sie das natürlich verstehen. Sie hatte sie ja auch nicht umbringen, sondern ihr nur einen Schreck einjagen wollen. Woher hätte Astrid wissen sollen, dass sie so allergisch war? Sie dachte an Agnes, die ihr großes Geheimnis ein Leben lang mit sich herumgeschleppt hatte. Niemandem hatte sie von Aleidas und Johannes’ Sohn erzählt. Vielleicht musste Astrid nun mit diesem Geheimnis leben. Dass sie den Tod eines anderen Menschen verursacht hatte und schuld daran war, dass Rickard nun Witwer war. Die Schuld belastete ihr Gewissen und ließ ihr keine Ruhe. Sie versuchte, nicht daran zu denken. Jetzt war es zu spät, Vendela davon zu erzählen. Oder Karin, dieser netten Polizistin. Sie hatte Astrid angesehen und gesagt:
»Ich glaube, die Seeräuber haben damals einfach getan,was in dem Moment nötig war, ohne groß darüber nachzudenken. Aber später hatten sie bestimmt Gewissensbisse.«
Da hätte Astrid es ihr beinahe erzählt.
»Wenn wir es noch zur Beerdigung schaffen wollen, müssen wir jetzt zurück nach Marstrand«, sagte Vendela. Sie ging zum Parkplatz hinter der Kirche. Astrid stand noch immer vor dem Grabstein von Daniel Jacobsson.
»Astrid?«
»Ich komme.« Sie wandte sich ein letztes Mal dem Grab zu und schien etwas zu dem schwarzen Obelisken zu sagen, bevor sie hinter Karin herging.
In der rot gestrichenen Kapelle auf Koö hatte sich nur eine kleine Gruppe versammelt. In dem alten Gebäude aus Holz sollte eine etwas verspätete Trauerfeier stattfinden. Ein eleganter dunkler Sarg mit einem Kranz aus Pfirsichzweigen und Tulpen stand neben einem kleinen weißen Sarg mit Wiesenblumen und Waldgeißblatt von Lovisas Kate auf Klöverö. Die Grundmauern standen noch. Charlie hatte sie entdeckt, und Vendela und Astrid hatten die Blumen gepflückt.
»Tulpen im Spätsommer?«, fragte Vendela verwundert.
»Direkt aus Holland.« Astrid, die stolz ihre ererbte Brosche trug, strich lächelnd mit der Hand über den braunen Sarg.
Der Pastor begrüßte alle und hielt anschließend die schönste Trauerrede, die Vendela je gehört hatte. Sie überwand nicht nur Landesgrenzen, sondern streifte mühelos durch Zeit und Raum. Von Holland, wo Aleida 1804 geboren war, bis zum heutigen Marstrand.
Als der Pastor fertig war, nickte er dem Kantor zu. Der räusperte sich.
»Ich habe mich für eins der Lieder von Stefan Andersson entschieden. Es heißt ›Von Erinnerungen leben‹. Eigentlichhandelt es von den Häftlingen auf Carlsten, aber ich habe es mit Astrids Hilfe ein bisschen verändert. Ich glaube, dass Aleida van der Windt nur dank ihrer Erinnerungen überleben konnte.
»… all die Gedanken, die ich denke
die Gefühle, die ich fühle
und die Momente, die ich genieße
kannst du mir niemals nehmen
Wenn die Sonn’ am Himmel steht
Und Wind der Vögel Lied herweht
Dann lebe ich von meinen Erinnerungen
Die mir niemand nehmen kann …«
Während Vendela der Musik lauschte, sah sie sich in der alten Kapelle um. Was für ein merkwürdiger Sommer das doch gewesen war und wie zerbrechlich ein Menschenleben. Sie dachte an den kleinen Jungen in dem Sarg, dessen Leben zu Ende war, bevor es begonnen hatte, und Rickard, der mitten im blühenden Sommer auf der schönsten Insel der Welt seine Frau verloren hatte und nun Witwer war. Sie betrachtete Astrid, die so entspannt wie schon lange nicht mehr aussah. Gitarrenklänge füllten die Kapelle und wehten durch die offenen Türen hinaus zu den Steinen auf dem Friedhof.
Zwei Särge wurden an diesem Nachmittag ins Familiengrab von Oskar Ahlgren gelegt. Der kleine weiße Sarg von Lovisas Sohn, der nun wieder mit seinen Eltern vereint war, und Aleida, die jetzt endlich neben dem Kind liegen durfte, dass sie zwar zur Welt gebracht, aber nie an sich gedrückt hatte.
Rickard war eine Woche zuvor abgereist. Er konnte keine weiteren Beerdigungen ertragen, was vollkommen verständlichwar. Aber sie hatten miteinander geredet. Richtig geredet. Sie hatten bis zum Sonnenuntergang draußen auf den Klippen und dann im Saal gesessen, während der Regen an die Fenster prasselte. Es würde zwar nichts mehr so sein wie vorher, aber trotzdem hatten sie auf seltsame Weise zueinander zurückgefunden. Kiefernnadeln in den Schuhen konnte Rickard zwar noch immer nicht ausstehen, er hatte sich aber bereiterklärt, mit dem Verkauf noch zu warten. Vielleicht war Vendela in der Lage, den Bremsegård selbst zu erwerben. Sie spielte mit dem Gedanken, ganz hinauszuziehen. Die
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