Die Wälder von Albion
hatte Eilan eine erfahrene und kluge Ratgeberin an ihrer Seite. Caillean besaß das Wissen und die Kraft, sich gegen die Druiden zu behaupten. Eilan war noch eine junge, in weltlichen Dingen unerfahrene Hohepriesterin. Als Stimme des Orakels rang sie jedesmal von neuem um die Gunst der Göttin. Nur wenn sie wirklich IHRE Stimme hörte, konnte sie sich dem Ruf der Stämme nach Krieg wirkungsvoll widersetzen. Aber wenn sie ihre Integrität nicht verlieren wollte, dann mußte es ihr immer wieder gelingen, die Kraft zu beschwören. Jedes Fest wurde deshalb für sie zu einer neuen Prüfung. Wenn sie einmal versagen sollte, konnte sie vor sich selbst und erst recht vor ihren Kritikern - allen voran Dieda - nicht mehr bestehen. Auch dabei half ihr Caillean. Wie sollte sie in dieser kritischen Phase auf die einzige wirkliche Stütze verzichten? Selbst Gaius, den sie geliebt hatte, stand nicht an ihrer Seite. Nur Caillean war immer zur Stelle gewesen. Eilan sah ihre Freundin hilflos an und suchte die Ruhe in ihrem Inneren.
Auch das haben wir schon öfter erlebt. Ich muß nicht zum ersten Mal mitansehen, wie sie stirbt…
Sie wehrte sich gegen dieses Wissen. Zorn und Empörung stiegen in ihr auf. Warum tat Caillean ihr das an? Aber so etwas zu denken, war ungerecht, denn sie sah sehr wohl, daß auch Caillean mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte; und Eilan wußte, für Caillean war es ebenfalls nicht einfach, das Wissen um den Tod zu ertragen.
Auch Caillean fürchtet sich, trotz ihrer Reife und ihrer Abgeklärtheit. Caillean fürchtet den Tod!
Eilan holte tief Luft, und die Kraft der Göttin, die Caillean in ihr wecken konnte, kam plötzlich über sie.
»Als Hohepriesterin von Vernemeton befehle ich dir: Erzähle mir deinen Traum!«
Caillean senkte den Kopf und berichtete schnell, was sie geträumt hatte. Eilan hörte ihr mit geschlossenen Augen zu. Sie sah die Bilder, während Caillean sie beschrieb. Bald befand sie sich in dem Traum, und Caillean mußte ihn nicht erst erzählen. Als die Priesterin schwieg, berichtete Eilan von den Schwänen in ihren Träumen.
»Wir werden getrennt werden«, sagte Eilan schließlich und öffnete die Augen. »Ob durch den Tod oder durch eine andere Macht, das weiß ich nicht. Aber der Gedanke, dich zu verlieren, Caillean, ist wie der Tod«, fügte sie leise hinzu.
»Aber wenn es nicht der Tod ist, was ist es dann?« fragte die Priesterin.
Eilan richtete den Blick wieder nach innen, und sie sah das silberne Wasser unter den Wolken.
»Das Sommerland… «, flüsterte sie plötzlich. »Wir haben beide in unseren Träumen Avalon gesehen. Caillean, du mußt dorthin und die Novizinnen mit dir nehmen. Ich kann dir nicht sagen, ob wir damit der Göttin dienen, aber es ist bestimmt besser, etwas zu tun, als hier zu warten, bis der Tod nach dir greift. Wir müssen es wagen, auch wenn wir uns irren sollten!«
Caillean schien noch immer nicht überzeugt zu sein, aber in ihren Augen zeigte sich wieder ein Funken Hoffnung.
»Ardanos wird das niemals erlauben. Er ist der höchste Druide, und er möchte, daß alle Priesterinnen hier in Vernemeton unter seiner Aufsicht sind… «
Eilan sah sie an und lächelte.
»Aber ich bin die Stimme des Orakels. Ardanos kannst du mir überlassen!«
Am Morgen von Beltane gingen die Novizinnen noch vor Tagesanbruch in den Wald, um den Tau auf den Blumen zu sammeln, denn der Tau besaß viele wundersame Kräfte. Er verlieh Schönheit und galt als Liebeszauber. Man sagte, wenn eine Frau vor Sonnenaufgang das Gesicht mit dem Tau benetzte und in einen klaren Bach blickte, werde sie das Gesicht ihres zukünftigen Mannes sehen.
Eilan runzelte die Stirn und fragte sich, weshalb Priesterinnen, die Keuschheit gelobt hatten, auf die Idee kamen, Tau zu sammeln…
Aber dann mußte sie lächeln. Beltane war ein besonderes Fest. Es weckte alle Sinne, und als Novizin hatte auch sie den Zauber der erwachenden Natur erlebt. Das Gelübde bedeutete nicht, für das Leben blind und taub zu werden. Das wäre ein schlechter Dienst an der Göttin gewesen.
Eilan hörte das heitere Lachen der jungen Frauen, die aus dem Wald zurückkehrten, aber sie konnte nicht zu ihnen hinausgehen und mit ihnen sprechen. Mit jedem Jahr spürte sie deutlicher, wie notwendig die Zeit der Zurückgezogenheit vor dem Ritual war, in der auch Lhiannon niemandem Zutritt gewährt hatte. Eilan hatte gehofft, es werde für sie mit der Zeit leichter werden, aber es fiel ihr von Fest zu Fest schwerer, das
Weitere Kostenlose Bücher