Die Wälder von Albion
gesehen… « Noch dazu, dachte sie, da die Auszeichnung nichts bedeutet, wenn sich Lhiannon auch weiterhin nicht dazu entschließt, ihre Macht wirklich auszuüben.
Lhiannon schien verärgert, und Caillean erkannte, daß sie sich mit ihren Bemerkungen auf verbotenes Gebiet gewagt hatte. Sie hatte der älteren Frau schon als junges Mädchen nähergestanden als eine Tochter und lebte seit mehr als dreißig Jahren bei ihr. Caillean wußte, wie sehr Lhiannon die Illusionen brauchte, die ihr die Wirklichkeit erträglicher machten.
Eine andere Frau hätte Caillean vermutlich die Frage gestellt, worauf sich ihr Ehrgeiz richtete, wenn nicht auf das höchste Amt in Vernemeton. Caillean biß sich auf die Lippen und nahm die noch beinahe volle Schale Haferbrei vom Tisch; Lhiannon hatte kaum etwas gegessen. Auch sie hatte keine Antwort auf diese Frage. Aber in ihrem Herzen wußte sie, daß der Dienst an der Göttin mehr bedeuten mußte als die förmlichen Rituale.
Zu den geheimen Lehren der Druiden gehörten Geschichten über eine längst vergangene Zeit. Priester eines Landes, das vom Meer verschlungen worden war, flohen nach Albion. Sie waren Meister der Magie und unvorstellbarer Künste gewesen. Sie hatten Einblick in die überirdischen Bereiche und wußten um die Gesetze der Welt, die das Geschehen im Kleinen wie im Großen bestimmen. Diese fremden Priester heirateten in die Sippen der herrschenden Familien Albions und später in die der Eroberer. Und so wurde das alte Blut und das alte Wissen über die Zeiten hinweg gewahrt. Aber die meisten eingeweihten Priester und Priesterinnen waren auf der Insel Mona gestorben und mit ihnen das geheime Wissen.
Caillean hatte manchmal den Eindruck, daß sie in Vernemeton nur noch kärgliche Reste der alten Macht bewahrten. Die meisten anderen Frauen im Heiligtum gaben sich mit ihrem wenigen Wissen und den bescheidenen handwerklichen Künsten zufrieden, aber Caillean wurde die Überzeugung nicht los, daß es mehr geben mußte als das. Sie hatte Lhiannon die Wahrheit gesagt -, sie wollte wirklich nicht die Hohepriesterin werden, denn mit diesem Amt verband sich eine politische Aufgabe, die kaum in Einklang mit dem wahren Dienst an der Göttin zu bringen war. Aber wenn sie nicht das höchste Amt anstrebte, was wollte sie dann an Lhiannons Seite? Was würde aus ihr werden, wenn eine andere die Stimme das Orakel verkörperte?
»Es ist Zeit für unseren morgendlichen Dienst an der Göttin.«
Lhiannons Stimme unterbrach ihre Gedanken. Die ältere Frau stützte sich schwer auf den Tisch und stand auf.
Möge die Göttin uns davor bewahren, daß wir bei dem Ritual auch nur den kleinsten Fehler begehen, dachte Caillean und half der Hohenpriesterin in den Garten hinaus, wo sie in Gebetshaltung vor dem schlichten Steinaltar Platz nahm.
Caillean entzündete die Lampe, die über dem Altar hing. Sie nahm die Blumen, die bereits davor lagen, und ordnete sie auf dem flachen Stein.
Während sie das ruhig und mit geübten Bewegungen tat, stellte sie fest, daß Frieden ihre Seele erfaßte.
» DU Wunderbare, DU schenkst
Das Leben mit der aufgehenden Sonne.
Wir bringen DIR die schönsten Blumen… «
Lhiannon sprach leise und hob zum Gruß die Hände. Caillean fiel ebenso leise ein.
» DEINE Strahlen geben der Sonne Kraft
Und läutern das heilige Feuer.
Im Osten erhebst DU dich jeden Tag
Und schenkst der Welt mit DEINEM Atem
Neues Leben. «
Die Stimme der Hohenpriesterin schien mit jedem Wort jünger und reiner zu klingen. Caillean wußte, ein Blick auf ihre Herrin hätte ihr gezeigt, daß die Falten des Alters auf Lhiannons Gesicht sich glätteten, ihre Augen strahlten und die Schönheit der Jungfräulichen Göttin sie umgab. Aber dieselbe Kraft hatte auch ihr Herz erfaßt.
» Die Blüten öffnen sich unter DEINEN
Tritten.
Die Erde wird grün, dort wo DU gehst… «
Wie so oft überließ sich Caillean ganz dem Rhythmus des Rituals, und die heiligen Worte trugen sie dahin, wo es nur den wunderbaren Einklang mit der Göttin gab.
4. Kapitel
Eilan erwachte am Morgen von Beltane im Haus der Frauen, wo sie zusammen mit ihren Schwestern schlief, noch vor Sonnenaufgang. Ihr Bett, ein Holzrahmen, über den Lederriemen gespannt waren, auf denen Felle und weiche Wolldecken lagen, stand direkt unter der Dachschräge. Sie mußte nur die Hand heben, um das Dach zu berühren. Im Laufe der Jahre hatte sie einen Riß im Lehmverputz der Seitenwand soweit vergrößert, daß sie hinausblicken konnte.
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