Die wahre Koenigin
leichte Berührung auf ihrem Arm schreckte Meredith aus den Gedanken auf. Mary Fleming warf ihr einen auffordernden Blick zu. Was wurde von ihr erwartet? Musste sie auf Lord Astons Ausführungen etwas erwidern? Die letzten Worte seines Vortrags schienen ihr entgangen zu sein.
Die Leute rutschten unruhig auf ihren Plätzen hin und her, als der Ratgeber der Königin den Wortlaut der Petition wiederholte.
Meredith hörte aufmerksam zu, schwieg einen Moment, bevor sie das Wort ergriff. „Ich werde die Eingabe des Bittstellers überdenken“, entschied sie. „Fahrt fort, Lord Aston.“
Ein missbilligendes Gemurmel erhob sich unter den Besuchern. Sie waren nicht einverstanden, dass die Königin eine Entscheidung vertagte.
Auch ihr Ratgeber war irritiert. Er räusperte sich und verlas die nächste Petition. Hier lag der Fall einfacher. Der Kläger verlangte, dass ihm ein brachliegendes Feld seines Nachbarn zugesprochen würde.
„Und wozu wollt Ihr das Stück Land benutzen?“, fragte Meredith.
Der Mann erhob sich und machte einen tiefen Diener. Voll Stolz auf seinen ruhmreichen Auftritt blickte seine neben ihm sitzende Frau in die Runde.
„Ich würde Rüben und Grünzeug anpflanzen, Majestät. Meine Viehherde hat sich vergrößert und braucht mehr Futter.“
„Und wer würde das Feld bestellen?“, war Merediths nächste Frage.
„Meine Söhne, Majestät. Wir haben vier kräftige Söhne.“
„Ihr seid mit Glück gesegnet, guter Mann. Wem gehört das Feld, das Ihr beansprucht?“
Eine untersetzte, abgearbeitete Frau stand auf. Ihr strähniges graues Haar war zu einem unordentlichen Knoten aufgesteckt. „Es gehört mir, Majestät.“
„Habt Ihr einen Mann?“
„Er ist letztes Jahr gestorben.“ Die Frau hielt schüchtern den Blick gesenkt und fingerte an der Schärpe ihres Kleides herum.
„Habt Ihr Söhne, die das Land bearbeiten könnten?“
„Ich habe einen Sohn, Majestät. Er hat mir immer tüchtig geholfen, aber seit er fort ist, um gegen die Engländer zu kämpfen, stehe ich ganz allein da.“
„Keine anderen Kinder?“
„Eine Tochter, Majestät. Die Engländer haben ihren Mann getötet, und seitdem lebt sie mit ihren drei Kindern bei mir. Wir haben versucht, die Arbeit zu zweit zu schaffen, aber es ist einfach zu viel.“
Meredith blickte zwischen den beiden Parteien hin und her. Warum kann das Leben nicht gerecht sein? dachte sie. Einigen schien das Glück nur so zuzufallen, während andere ihr
Leben lang vom Schicksal gebeutelt wurden.
„Ich erlaube Euch, das Land dieser Frau zu bebauen, bis ihr Sohn zurückgekehrt ist“, lautete Merediths Urteilsspruch.
Der Mann lächelte, zufrieden über seinen Erfolg.
„Vorausgesetzt, Ihr gebt Eurer Nachbarin als Bezahlung die Hälfte der Ernte.“
Der Mann sperrte den Mund auf. „Aber, Majestät, die Ernte ist der Ertrag meiner Arbeit.“
„Eurer Arbeit und ihres Feldes“, ergänzte Meredith. „Wenn der Sohn der Frau zurückkommt, gehört das Land wieder ihr.“
„Majestät ...!“
„Dies ist das Urteil Eurer Königin.“
Die Zuhörer waren während der Verhandlung sehr still geworden. Viele von ihnen waren über das Urteil der Königin sichtlich erfreut. Brenna und Megan lächelten nicht. Sie starrten einander fassungslos an. Zwar konnten sie das Gesicht der Königin nicht sehen, aber sie hatten ihre Stimme gehört. Es war unverkennbar Merediths Stimme.
Und obwohl Brice der Verhandlung kaum gefolgt war, hatte auch er bemerkt, dass nicht Mary Stuart gesprochen hatte. Er blickte zu der Frau auf dem Thron hinüber und musterte ihr Gesicht.
Es durfte nicht wahr sein! Meredith. Verkleidet als Königin. Deshalb also war sie heute Morgen so nervös gewesen. Brice musste schmunzeln. Wieder benutzte Mary sie schamlos für ihr Privatvergnügen. Es stimmte also, was man über die heimliche Romanze mit Lord Bothwell munkelte.
Brenna und Megan zupften Brice am Ärmel, um ihm ihre Entdeckung mitzuteilen. Aber er legte den Finger auf die Lippen und nickte nur. Die Mädchen drehten sich um und beobachteten gespannt den Fortgang der Scharade.
Langsam gewöhnte Meredith sich an ihre Rolle. Nach der glücklich überstandenen Feuerprobe wickelte sie einen Fall nach dem anderen ab. Die einfachen entschied sie sofort, während sie die komplizierteren auf später vertagte.
Eine alte Frau in armseliger Kleidung wurde aufgerufen. Sie war gekommen, um die ausstehende Bezahlung für Kleider einzuklagen, die sie für einen adligen Herrn angefertigt
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