Die wahre Lehre - nach Mickymaus
jemand bei einer Schweizer Bank, der unauffällig prüfen konnte, ob es das Konto gab. Nach dreißig Jahren mußte eine beachtliche Summe darauf liegen.
Maud blickte mich kopfschüttelnd an. »Ich fürchte, Sie wären tatsächlich imstande, sich an die Story zu machen. Nein, Herb. Lassen Sie es so, wie es ist. Bitte. Ich lebe. Nicht gut, aber auch nicht schlecht, ich bin zufrieden. Ich kann den Leuten ein wenig Freude bringen. Sie haben selbst erlebt, wie sie gelacht haben, den Alltag für ein paar Minuten vergessen – ich flehe Sie an.«
»Okay«, sagte ich, »ich kann Sie nicht zwingen. Aber ich bin jetzt überzeugt, daß Ihre Geschichte wahr ist. Und ich verstehe, daß Sie nach all den Schwangerschaften eine tiefe Sehnsucht nach einem Kind haben, daß Sie diese Kasperlepuppe unbedingt stehlen mußten …«
»Gar nichts verstehen Sie!« Sie sprang auf. »Kommen Sie mit.«
Sie lief mir voraus in den Wohnwagen. Da lag das Kasperle. In einem Babykorb. Im ersten Augenblick erkannte ich es nicht wieder, es lag auf der Seite, bis zum Kinn zugedeckt. Ohne die bunte Mütze, mit schwarzen Locken auf dem Kopf, und ohne die kugelrunden Apfelbäckchen, auch seine Nase war nicht mehr purpurrot. Und es atmete! Drehte sich auf den Rücken.
»Verstehst du jetzt?« flüsterte Maud. »Ich muß ihn doch beschützen, er ist so klein, so hilflos.«
»Dein Sohn?«
Sie nickte, versuchte zu lächeln. Erbarmungswürdig hilflos, verzweifelt, Tränen liefen über ihre Wangen, ich mußte sie in den Arm nehmen und ihren Kopf, ihren Rücken streicheln. Sie drückte sich an mich, ihre Hände umklammerten meine Schultern. Sie weinte sich aus, während ich in den Babykorb starrte, auf das friedlich schlafende Kasperle. Ein Baby mit dem Gesicht eines Sechsjährigen und der Nase eines Erwachsenen. Ein Monster? Vielleicht sogar ohne Beine? Ein von skrupellosen Wissenschaftlern künstlich gezeugter Däumling? Kasperle gähnte im Schlaf, schmatzte unruhig.
»Komm, wir wollen ihn nicht wecken.« Ich zog sie zur Tür. Wir setzten uns in den Schatten des Waldrandes.
»Ich schwöre es«, sagte ich, »ich werde nichts tun, was euch schaden kann, aber jetzt muß ich unbedingt auch noch den Rest der Geschichte erfahren.«
Sie sah mich an. »Darf ich dich einmal küssen?«
Es blieb nicht bei dem ersten scheuen Jungmädchenkuß. Vor zwei Minuten noch hatte ich in Maud nichts anderes gesehen als eine Frau mit einem Geheimnis, das ich unbedingt ergründen mußte, jetzt schien nichts selbstverständlicher, als daß wir uns liebten. Dann lagen wir still nebeneinander, Maud atmete schwer.
»Ich hatte es längst vergessen«, flüsterte sie. »Nicht einmal mehr geträumt habe ich davon. Und nun bin ich eine alte Frau.«
Ich protestierte. Als ich mich aufsetzte, zog sie den Sari über ihren Bauch. Die Brüste bedeckte sie nicht. Wunderschöne volle Brüste. Dazu eine makellose Haut – welch Gegensatz zu ihrem Gesicht. Ich sagte ihr, daß ich schon lange nicht mehr so schöne Brüste, eine so glatte Haut gestreichelt hätte, und sie lächelte glücklich.
»Vielleicht haben das die vielen Schwangerschaften bewirkt«, meinte sie. »Und dabei habe ich nur einmal mit einem Mann geschlafen. Drei Wochen lang, damals …« Sie weinte wieder.
An diesem Abend, in dieser Nacht, vertraute sie sich mir rückhaltlos an. Nicht weil wir miteinander geschlafen hatten: Weil ich seit Jahren der erste war, mit dem sie sich unterhielt, offen sprechen konnte, der zweite Mensch überhaupt. Ich ließ Traunstein und Weißenbacher sausen; was war radioaktiver Schnee auf der Zugspitze gegen diese unglaubliche, ungeheure Geschichte. Ich ließ Maud sprechen. Und schweigen. Drängte nicht. Stellte nur Fragen, wenn sie den Faden verlor. Ich wußte, jetzt würde ich alles von ihr erfahren. Aber viele Fragen konnte sie nicht beantworten.
Was aus den Kindern wurde, zum Beispiel. Wurden sie bald nach der Geburt umgebracht, fristeten sie noch eine Weile ihr Leben im Institutsbereich? Maud hatte all die Jahre kein Kind zu Gesicht bekommen – sobald die Preßwehen einsetzten, wurden die Geburten unter Narkose fortgesetzt –, hatte sich damals auch nie Gedanken darüber gemacht!
Sie hatte keine Ahnung, was aus den Frauen geworden war, die während ihrer Zeit aus dem ›Sanatorium‹ ausschieden, sie wußte so wenig von ihnen, daß es unmöglich gewesen wäre, auch nur eine wiederzufinden. Lebten sie überhaupt noch? Wenn, dann sicher ohne sich zu erinnern, daß man sie als
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