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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Caroline war an ihr vorbeigeschossen, durch die Tür und den Flur in den Salon.
    Caroline hatte sich unter dem großen Seance-Tisch im Salon versteckt. Amy war in die Knie gegangen und auf sie zugekrochen, aber Caroline war vor ihr zurückgewichen, bis die schweren Beine des geschnitzten Stuhls sie fast versteckten.
    Amy war unter dem Tisch hervorgekrochen, um sie nicht zu erschrecken, und hatte sich wieder auf ihre Fersen gehockt, die Arme zu der Sechsjährigen ausgestreckt. Caroline blieb hinter dem Stuhl zusammengekauert. »Komm her«, hatte sie geflüstert, entsetzt darüber, daß sie so weit erniedrigt wurde, um dergleichen sagen zu müssen. »Ich werde dir nicht weh tun, Liebling.«
    Caroline schüttelte den Kopf, noch immer feuchte Tränen im Gesicht. »Du wirst mich wieder vergiften«, flüsterte sie. Amy konnte sie kaum hören.
    »Vergiften?« fragte Amy halblaut. Caroline lag in ihren Armen im Sterben, und dann Jim, der sie durch den Park zu dem Haus trug, sie rannte hinter ihm her, ihr Herz schlug heftig, sie rannten hierher, weil die Polizeiwache sich auf der anderen Seite des Parks befand, und sie hatte Angst, Caroline würde sterben, bevor Jim sie erreicht hätte. Jim trug sie hierher, in dieses Haus, das viel näher lag. Zu diesen Leuten. »Wir hätten sie nicht herbringen sollen«, dachte sie hysterisch, als Ismay Carolines schlaffen Körper Jim aus den Armen nahm.
    »Irgend jemand hat dich vergiftet«, sagte Amy und wußte, daß es stimmte. Sie war für einen längeren Augenblick so schockiert, daß sie nichts sagen konnte. Sie verschränkte die Hände über der Brust, als sei sie dort verwundet worden, und flüstere so leise, saß jemand hinter ihr sie nicht verstanden hätte, die Lippen wie bei einem fast lautlosen Gebet bewegt: »Ich würde dir nie weh tun, Caroline. Ich liebe dich.«
     
    Carolines Weinen klang jetzt lauter, als ob jemand eine Tür geöffnet hätte. »Ich muß Caroline suchen«, sagte sie laut und versuchte diesen tapferen Gedanken festzuhalten, während sie durch die geöffnete Tür auf das Weinen zuging. Aber bis sie das Zimmer erreicht hatte, in dem sie Caroline versteckten, sagte sie immer wieder, wie ein Gebet: »Etwas Entsetzliches ist geschehen, etwas Entsetzliches ist geschehen.«
    Sie hielt in der offenen Tür inne und blickte zurück zum Salon. Die Lampen im Flur flackerten wie Kerzen und beruhigten sich dann, schwächer als zuvor. Es war eiskalt im Flur. »Ich sollte zurückgehen und meinen Mantel holen«, dachte Amy. »Es wird kalt auf Deck sein.« Und dann der andere, noch kältere Gedanke. »Ich darf dort nicht hineingehen. Im Salon ist etwas Entsetzliches geschehen.«
     
    Ismay hatte sie in den Salon gebracht, wo sie warten sollte, während der Arzt sich um Caroline kümmerte. Amy hatte am Fuß der breiten Treppe gestanden, an den Endpfosten geklammert, und versucht, nicht zu denken: »Sie wird sterben«, aus Angst, sie würde wissen, daß es stimmte.
    »Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, hatte eine der grauhaarigen Frauen gesagt und Amys verkrampfte Hände getätschelt, als sie mit einer Decke nach oben ging. Sie war in dem wehenden grauen Stoff gekleidet, den alle Frauen trugen, selbst die Jüngste. Sie hatten sich wie Gespenster um Carolines schlaffen Körper versammelt, und Amy war dabei der Gedanke gekommen: »Das ist eine Art Sekte. Ich hätte sie nicht herbringen sollen.« Aber die Jüngere – Debra hatte Jim sie genannt – war sofort einen Arzt holen gegangen. Debra hatte den Arzt an Amy vorbei die Treppe hinaufgeführt. »Das kleine Mädchen ist im Park zusammengebrochen«, sagte sie dabei. »Sie machte gerade ein Picknick. Ihr Vater hat sie hergebracht.« Und sie hatte sich so normal angehört, ungeachtet des wehenden Geistergewandes, daß Amy wieder angefangen hatte, Hoffnung zu schöpfen.
    »Die Hoffnung hält stand, nicht wahr?« sagte jemand hinter ihr. »Selbst wenn die offenkundigsten Hinweise für das Gegenteil sprechen.«
    »Was meinen Sie damit?« stammelte Amy. Es war der Mann, den Jim Ismay genannt hatte. Debra und Ismay. Woher hatte er ihre Namen gewußt?
    »Wissen Sie«, fragte er, »daß es nahezu eine Stunde dauerte, bis die Passagiere der Titanic wußten, daß ihr Schiff sank? Sie sahen dann auf die Lichter hinunter, die noch immer unter der Wasseroberfläche in den unteren Decks brannten, und sagten: ›Wie hübsch! Meint ihr, wir sollten vielleicht in ein Rettungsboot steigen?‹«
    Amy war sehr erschrocken darüber, was dieses

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