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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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verblaßte Tapeten, aber das Zimmer, in das sie Caroline eilig hinaufgebracht hatten, war kahl, ein zusammenklappbares Feldbett und graue Wände, und sie hatte wieder gedacht: Dieses Haus ist von einer Art Sekte übernommen worden.
    Nah des Fensters stand ein großer runder Tisch, ringsum Stühle, und in der Mitte brannten Kerzen in einem Kandelaber. Einer der Stühle war schwerer als die anderen und reich mit Schnitzereien bedeckt. »Der Tisch des Kapitäns«, kam Amy in Gedanken an die Titanic in den Sinn, »und der Kapitän sitzt in diesem Stuhl.«
    Sie hatte sich von Ismay abgewandt und im Umwenden gesehen, was hinter ihr stand, blaßweiß in der Dunkelheit des Zimmers. Ein Eisberg. Ein Katafalk. Eine Bahre. Ich habe ihn zu spät gesehen, dachte Amy und versuchte an Ismay vorbeizukommen, aber er stand an der Tür.
    »Die Titanic ist sehr schnell untergegangen«, sagte er. »In etwas weniger als zweieinhalb Stunden. Bei Menschen dauert das normalerweise länger. Es sind noch Jahre später Geister gesehen worden, auch wenn es meiner Erfahrung nach eine Sache von Stunden ist, bis sie untergehen.«
    »An welch einem Ort sind wir hier?« fragte Amy. »Wer sind Sie?«
    »Ich bin ein Mann, der Geister sieht, ein Spiritist«, erklärte Ismay, und Amy fiel vor Erleichterung beinahe in Ohnmacht.
    »Sie halten hier Ihre Seancen ab«, sagte sie, über die Maßen von seinen Worten erleichtert. »Sie sitzen in diesem Stuhl und rufen die Geister«, fügte sie schwindlig hinzu und setzte sich in den geschnitzten Stuhl. »Kommt von der anderen Seite zu uns und all das. Haben Sie jemals einen Geist von der Titanic herbeigerufen?«
    »Nein.« Er wandte sich ihr zu und sah sie an. »Jeder Geist ist eine Titanic für sich.«
    Sie fühlte sich unwohl in seiner Nähe. Sie stand auf und blickte durchs Fenster. Am anderen Ende des Parks sah sie die Polizeiwache, und sie wurde von derselben ungestümen Erleichterung überwältigt. Die Polizei befand sich in Signalreichweite und oben war der Arzt, und all die geisterhaften Damen waren bloß harmlose Tischrücker, die mit ihren toten Männern sprechen wollten. In diesem Zimmer ließ Ismay immer die Fenster auffliegen und Kerzen ausgehen, Geister über dem Katafalk schweben, die Hände friedlich über ihren Brüsten gefaltet, und wovor, wovor hatte sie Angst gehabt?
    »Ich hatte einen Vorfahr auf der Titanic«, sagte er. »Wirklich ein ziemlich übler Bursche. Er kam in einem der ersten Boote davon. Wissen Sie, daß die Titanic als erstes Schiff das internationale Seenotzeichen verwendet hat? Und die Californian, die nur fünfzehn Kilometer entfernt war, hätte es als erstes empfangen, ein historisches Zusammentreffen, aber der Bordfunker war schon zu Bett gegangen, als die ersten Botschaften gesendet wurden.«
    »Die Carpathia hat sie gehört«, widersprach Amy und ging an ihm vorbei durch die Tür, um dorthin zu gehen, wo es Caroline allmählich besser ging. »Kapitän Rostron ist gekommen.«
    »Es gab den ganzen Tag Warnungen vor Eisbergen«, erklärt Ismay. »Aber die Titanic hat sie ignoriert.«
     
    Amy lehnte sich gegen die Wand, nachdem Debra vorbeigegangen war, und preßte sich die Hände gegen die Brust, als sei sie verwundet worden. Ich muß Jim finden, dachte sie. Er wird dafür sorgen, daß sie in eins der Boote kommt.
    Sie hatte große Schwierigkeiten mit der Treppe gehabt. Sie schien sich vorzuneigen, und Amy mußte alle Konzentration zusammennehmen, um sie hinaufzusteigen, und sie konnte nicht darüber nachdenken, wie sie sich Jim verständlich machen, wie sie ihn dazu bringen sollte, Caroline zu retten. Selbst der Flur bekam in ihre Richtung Schlagseite, so daß sie sich zu Debras Zimmer kämpfen mußte, als erklettere sie einen steilen Hügel. Als sie die geschlossene Tür erreichte, mußte sie für einen Augenblick stehenbleiben, bevor sie Kraft fand, ihre Hand an den Türknopf zu legen. Als sie es tat, glaubte sie, die Tür würde abgeschlossen sein. Dann blickte sie auf ihre Hand hinunter. Sie ließ sie an ihre Seite sinken, als sei sie verletzt worden.
    Debra öffnete die Tür und lehnte ihren anmutigen Körper dagegen. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie.
    »Sie können sie nicht einfach da drin lassen«, rief Jim. »Was ist mit der Polizei?«
    »Warum sollte die Polizei kommen, wenn niemand sie verständigt hat? Wir haben keine Telefone. Die Haustüren sind abgeschlossen. Wer sollte sie holen?«
    »Caroline.«
    Amy kam ins Zimmer.
    Debra schüttelte den Kopf.

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